Wie Scheffels Perkêo-Ballade entstand

Perkeo war ein Hofzwerg. Einer, der aufgrund seiner auffällig kleinen Wuchses besonders große Beachtung erfuhr. An frühneuzeitlichen Fürstenhöfen waren Menschen wie er sogar in hervorgehobener Stellung, durften Fürsten ungestraft die Wahrheit ins Gesicht sagen. Und heute? Ist es nicht genauso? Professor Raimund Lang hat auf der 82. deutschen Studentenhistorikertagung in Würzburg beeindruckend über den Heidelberger Hofzweg Perkeo referiert, der dem Kurfürst von der Pfalz ungestraft dessen Trunksucht vorhalten durfte. Daraus eintstanden ist ein wunderschöner Aufsatz, der in unserem Würzburg-Tagungsband natürlich enthalten ist. [1]

Tasso und Julia sind zwei Gestalten der Literaturgeschichte: eine real dichtende und eine ideal erdichtete. Bereichert man sie um eine dritte Figur, die beides in sich vereint, also sowohl Leibhaftig­keit als auch Fiktion, wie das beim kleinwüchsigen und durst­mächtigen Perkêo der Fall ist, so gelangen wir an den Ursprung einer der schönsten Studentenballaden – an die legendäre Ge­schich­te von der rückstandlosen Leerung des Heidelberger Fasses durch einen hemmungslosen Ein­zeltrinker, die später zum Cantus werden sollte.

In unzähligen volkstümlichen Abbildungen verewigt: der legendäre Zwerg Perkeo aus Heidelberg

Gegeben hat es sie alle drei. Von Letzterem wissen wir am we­nigsten – nur, dass er aus Südtirol stamm­te, genauer aus Salurn, und dass er das Handwerk des Knopf­machers gelernt hatte. Über seine richtigen Namen – Klemens Pan­chieri? Cle­mens Pankert? – gibt es Ver­mutungen,  über  sein  Pseudonym – Perkêo – nurmehr zweifelhafte  Theorien.  Eine davon, die zwar allgemein kolportiert wird, aber doch eher kon­struiert erscheint, besagt, dass es eine Art Künstlername war, weil der aus dem südlichen Zipfel Südtirols stammende, also des Italienischen wohl kundige Hofnarr auf die Frage, ob er noch ein Glas Wein trinken wolle, regelmäßig mit „Perché no?“ geant­wor­tet haben soll – zu deutsch: „Warum nicht?“[2] Wohl lediglich phonetisch besteht hier eine Ähnlichkeit zu dem Narrennamen Perkêo.[3] Ob vielleicht – auch dies vermutungsweise – eine in unseren Ohren fremdartig klingende Verkleinerungs­form des realen Nachnamens in seiner italienischen Form Panchieriden so eingängi­gen wie markanten „Markennamen“ Perkêo hervorbrachte?

Wie dem auch sei – Heidelbergs Kurfürst Karl Philipp brachte Pankert oder Panchieri im Jahre 1716 aus Innsbruck mit, als er auf den kurpfälzischen Thron gelangte, das immerhin kann als gesi­chert gelten – wohl, weil ihm der gewitzte Welschtiroler unter­haltsam schien. Der Kur­fürst machte den Knopfmacher dann sogar zum Kammerherrn, wobei der neue Rang in diesem Fall wohl eher der barocken Variante eines Hofnarren entsprach, womit des­sen freches Mundwerk ritualisiert – und vielleicht auch abgesi­chert – wurde. Der kurfürstliche Hof residierte damals noch in Neuburg an der Donau und übersiedelte erst 1718 ins Neckar-Athen, das er aber nach einem elementaren Zerwürfnis mit den Protestanten schon 1720 wieder Richtung Mannheim verließ. Ge­rade zwei Jahre also blieben dem Zugereisten, um das Heidel­ber­ger Fass zu leeren. Zu kurz, um dieses Unterfangen tatsächlich zu bewältigen – theoretisch. Praktisch aber war’s lange genug, um aus diesem äthylischen Tun eine unsterbliche Legende werden zu lassen.

Aktuelle Rezension von Raimund Lang: „Hofzwerge“ von Eva Seemann

Erschienen 2023 im Wallstein-Verlag, Göttingen

Was aber haben Tasso und Julia damit zu tun? Nun, das be­darf einer etwas tiefergehenden Betrachtung. Natürlich ist mit Tasso nicht jener der Geisteskrankheit verdächtige italienische Laureat gemeint, der im 16. Jahrhundert „Das befreite Jerusalem“ besungen hat, sondern jener von frühem Nervenleiden geplagte badische Beamtensohn, der im 19. Jahrhundert die Literaturgat­tung der Kneiplieder revolutionieren sollte. Denn als der während seines ersten Heidelberger Semesters, das war das Wintersemester 1844/45, an einer Erkältung litt und folglich an der Kneiptafel den Bierkrug mit der Teetasse tauschen mußte, stülpten ihm die Bun­desbrüder boshaft den Kneipnamen Tasso über: der aus der Tasse Schlürfende. Uns ist jener malade Kneipant weit besser unter seinem recte-Namen bekannt, und der war Joseph Victor Scheffel, damals noch ohne „von“. Und auch besagte Julia ist nicht die das Ideal leidenschaft­licher Hin­gabe verkörpernde Veroneserin aus der Familie der Ca­pulet und damit eine artverwandte Nachfahrin der babylonischen Thisbe, sondern die sittsame Tochter des Münchner Juristen Na­thanael von Schlichtegroll, die zarte 14 Jahre zählte, als der junge Scheffel sich – heimlich, aber heftig – in sie verliebte.

Nun fügte es sich, dass selbige Julia im Sommer 1847, nun be­reits 17 Lenze zählend, gemeinsam mit Vater und Schwester eine Reise durch Baden unternahm und dabei auch in Karlsruhe Sta­tion machte. Dort lebte seit einigen Monaten wieder der Studio Schef­fel, der in Heidelberg exmatrikuliert hatte und sich nun unter väterlicher Kuratel auf das Examen vorbereitete. Im Um­gang mit Frauen wohl etwas verhemmt, doch beim Erscheinen der anmuti­gen Jungfer aufs Neue entflammt, empfahl er sich als charmanter Stadtführer für Heidelberg und man reiste zu diesem Behuf ge­meinsam dorthin. Nach eigenem Bericht erlebte er nun vier tief empfundene Tage. Auch das Große Fass präsentierte er seiner An­gebeteten und stellte sie seinen Bundesbrüdern vor – nach der kurzlebigen Alemannia waren es die der Frankonia. Seine schönen Hoff­nun­gen aber erfüllten sich indes nicht. Julia war bereits anderweitig versprochen.

Scheffel muss tief getroffen gewesen sein. Er kompensierte seinen stillen Schmerz durch schwer­mütige Verse. Es entstanden das später ins Säckinger Trompeterepos aufge­nommene „Das ist im Leben hässlich eingerichtet …“ mit dem sprichwörtlich gewor­denen Refrain „Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen …“ so­wie die Liebeselegie „Ein Hering liebt’ eine Auster …“, [4] Schließlich ent­sprang dieser Stimmung auch die Ballade vom Perkêo – durch den gemein­samen Besuch des Fasskellers war der Hofnarr zum Requisit einer bitter-süßen Erinnerung geworden.

Der angehende Dichter, der ausdrücklich zum Juristen be­stimmt war, sich aber damals noch vorrangig der Malerei ver­schworen fühlte, unterwarf darin seinen eigenen Seelenzustand der Philosophie des Hafis. Dieser hatte zwar im 14. Jahrhundert gelebt, war aber in jenen Jahren durch Goethes „Westöstlichen Diwan“, 1819 erstmals erschienen und 1827 um mehr als 40 Ge­dichte er­gänzt, dem deutschen Bildungsbürgertum bewusst und bekannt ge­worden. Und wie der orientalische Altmeister sah Scheffel – durch seinen Perkêo – im Genuss erhebender Getränke einen Weg zur Lebensflucht und Gottesnähe „… es ist im Grund doch alles nur Nebel, Rauch und Dampf. Die Wahrheit liegt im Weine …“.[5]

Tatsächlich findet sich dieser Vers bereits in der Urfassung des Perkeo-Liedes, die sich beträchtlich von der späteren, verton­ten, legendär gewordenen unterscheidet. Die Kenntnis dieser frü­hen Version verdanken wir dem engen Scheffelfreund, dem Rich­ter und nachmaligen Zweiten Bürgermeister von Eisenach, Karl Friedrich Schwanitz,[6] der sie mit „Das Lied vom großen Fass und vom kleinen Zwerg“ überschrieb; es ist interessant, sie mit der später in die Sammlung „Gaudeamus“ aufgenommene Version zu vergleichen:

Perkio (sic!) war der Hofzwerg im Heidelberger Schloß, / ein winzig kleines Männlein, sein Durst aber riesengroß. / Man hieß ihn einen Narren, – er dachte Liebe Leut’, / Wärt ihr wie ich doch alle so durstig und gescheit! / Und als das große Faß mit Sekt gefüllet war, / da ward sein künft’ger Standpunkt dem Hofzwerg völlig klar. / Fahr wohl, sprach er, o Welt, du Katzenjammertal, / was sie in dir jetzt treiben, das ist mir ganz egal. / Um lederne Ideen führt man manch heißen Kampf, / es ist im Grund doch alles nur Nebel, Rauch und Dampf. / Fahrt wohl, ihr roten Rosen, was nützt mich euer Duft? / ’s hat Mitternacht geschlagen, ich witt’re Morgenluft. / Hier oben wächst der Unsinn zu massenhaft heran, / im Wein nur liegt die Wahrheit, dort such’ ich sie fortan. / Beim Heidelberger Fasse, beim Weintrunk ohne End’ / Erklär’ ich alter Narre mich jetzt für permanent! / Perkio stieg zum Keller und kam nicht mehr herfür. / Er trank noch siebzehn Jahre tief unten Malvasier. / Ein Dutzend Flaschen waren sein täglich Deputat, / draus schöpft’ im stillen Trunk er viel Weisheit früh und spat. / Viel schöne Gedanken flogen wie Lerchen um ihn herum, / und konnt’ er nicht mehr grade, so ging er eben krumm. / Als er zuerst hinabstieg, das Faß war eben voll, / und als er kam zum Sterben, klang’s schon gewaltig hohl. / Da sprach er fromm: Gepriesen sei mir des Herren Macht, / die in mir schwachem Knirpse so Großes hat vollbracht. / Gleich wie’s dem kleinen David gegen Goliath einst gelang, / so ich als tapfrer Streiter meinen Riesendurst bezwang. / Meine Zeit ist jetzt vorüber, ich fall’ beruhigt ab, / begrabt mich unterm Fasse und – trinkt auf meinem Grab. / Perkio ward begraben, es ist schon lange her, / das Heidelberger Faß ist jetzt versiegt und leer. / Doch der dies Lied gesungen, hat durstig sein gedacht / Und ehrfurchtsvoll beim Fasse dem Zwerg ein Hoch gebracht.[7]

Das weicht noch ziemlich von unserer vertrauten Dichtung ab, die 1861 der historisch gesichtslos gebliebene Jurist Stephan Gruwe[8] äußerst gelungen in Töne gesetzt hat. Die 17 Doppelverse hinken an manchen Stellen im Metrum, entbehren noch einiger populär gewordener Formulierungen, wie des in den allgemeinen Sprach­gebrauch eingegangenen Begriffs „feucht-fröhlich“ – eine Wort­schöpfung Scheffels – oder des dröhnenden De profundis, weisen aber auch bereits einige, 1857 in der überarbeiteten siebenstrophi­gen Fassung erstmals in ein Kommersbuch[9] übernommene Verse auf, wie jene von den „ledernen Ideen“, vom „Weintrunk ohne End“ oder vom Lobpreis des „schwachen Knirpses“. Wieso der­selbe allerdings jahrelang Malvasier trinken konnte, wenn das Fass doch mit Sekt gefüllt war, wie es zumindest nach den histori­schen Fakten unstreitig ist, das läßt diese Dichtung offen – und genau genommen spielt es auch keine entscheidende Rolle.


[1] Unser Indexbild ist eine Collage. Zugrunde liegt ein Bild des Liederbuches des A.C. Hamburg von 1859, das den Titel „Perkêo“ trägt. Hineinmontiert ist eine Vignette mit der Titelbildgestaltung des Tagungsbandes Würzburg 2022.

[2]   Diese Informationen werden offiziell durch die Stadt Heidelberg publiziert, zum Beispiel auch online abrufbar unter: https://www.schloss-heidelberg.de/wissenswert-amuesant/anekdoten/perkeo.

[3]   Zur Frage der Namensgebung äußerst sich auch Oskar Pach im Schef­fel­jahrbuch für 1907, S. 150 f.; er bezieht sich darin auf einen Beitrag von Hans Sendling in Velhagen und Klasings Monatsheften.

[4]   Dieses Lied ist eine Pa­ro­die auf Heines ein Vierteljahrhundert zuvor verfasstes „Ein Jüng­ling liebt’ ein Mädchen …“.

[5]   Scheffel zitiert die Perkêo-Figur später ein weiters Mal, nämlich im „Zweiten Stück“ seines 1853 veröffentlichten Trompeter-Epos. Dort heißt es: „… dort, es war des Kurfürsts Hofnarr / war mein alter Freund Perkêo. / Der hatt’ aus des Lebens Stürmen / zu kontemplativer Trinkung / sich hierher zurückgezo­gen …“; es folgen weitere 75 Verse.

[6]   1823 – 1903.

[7]   Zitiert nach der Scheffel-Gesamtausgabe von Johannes Franke, Leipzig 1916, 2. Teil, S. 114 f.

[8]   1834 – 1901.

[9]  Es handelt sich um die zweite Auflage des Magdeburger Kommersbuches; die Wiedergabe erfolgte allerdings noch ohne Melodie.

Ein Kommentar zu “Wie Scheffels Perkêo-Ballade entstand”

Schreibe einen Kommentar