„Hofzwerge“: Exzellente Einblicke in eine erloschene Epoche

Das Exotische hat Menschen immer angezogen. Das Ungewöhnliche, Fremdartige, aus der Norm Tretende erweckt Scheu, aber stimuliert die Neugier. Kleinwüchsige Menschen irritierten und faszinierten zugleich, seit alters her. An frühneuzeitlichen Fürstenhöfen erhielten sie einen eigenen Status, der uns heute beeindruckt und überrascht. Eine Schweizerin hat über die Hofzwerge geforscht, und Studentenhistoriker stoßen auf eine wohlbekannte Persönlichkeit.

Andersartiges Aussehen schafft Abstand, erregt aber auch Aufmerksamkeit. Noch bis ins frühe 20. Jahrhundert hat man Menschen, die dem als „normal“ empfundenen Erscheinungsbild nicht entsprachen, zur Schau gestellt. Das geschah oft – ja meist – auf Kosten der Menschenwürde. Missgestaltete wurden zu Objekten der Schaugier und verloren damit ihre Freiheit, ihr Recht auf Selbstbestimmung. Soziale Diskretion war der menschlichen Gesellschaft bis vor wenigen Generationen fremd. Wer dem vertrauten Raster an Größe, Aussehen und Gewicht nicht gleichkam, widersprach der göttlichen Ebenbildlichkeit. Er wurde zum Außenseiter und damit zum Gegenstand der Irritation.

Im renommierten Göttinger Wallstein-Verlag erschienen: Eva Seemanns Monographie über eine soziale Rolle aus einer längst vergangenen Epoche.

Und doch gab (und gibt) es Bereiche, wo die Andersartigkeit eine Art Paralleldasein erlaubt(e): Geschöpfe, deren messbare Körperlichkeit den üblichen Rahmen sprengt, ansonsten aber den Verhaltensweisen und Bedürfnissen des als „normal“ apostrophierten Menschen entspricht. Dazu gehören vor allem zu groß oder zu klein gewachsene Menschen, sogenannte Riesen und Zwerge.

Nun ist ein Buch erschienen, das sich mit großer Ausführlichkeit der letztgenannten Gruppe widmet, wenngleich unter speziellen Bedingungen. Schon der knappe Titel, „Hofzwerge“, grenzt ihr soziales Umfeld empfindlich ein. Sie lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen, doch geht es in der vorliegenden Monographie vorrangig um die an Residenzen und Fürstenhöfen der Renaissance und der Barockzeit allgegenwärtigen kleinwüchsigen Mitglieder des Hofstaates, die in ihrer Rollenzuordnung keineswegs als Zielscheiben von Spott und Hohn dienen mussten, sondern durchaus Anerkennung, Rang und sogar Einfluss zu gewinnen vermochten.

Die Divergenz galt den Zeitgenossen vielmehr als „privilegierte Kuriosität“, als Ausdruck einer „Kultur des Wunderbaren“, wie es die Autorin schon am Beginn ihres 500-seitigen Werkes formuliert. Eva Seemann, promovierte Historikerin und Philologin, forscht und lehrt am Historischen Seminar der Universität Zürich. Sie legt mit diesem Band eine erweiterte Arbeit ihres Promotionsthemas vor und wurde dafür 2023 mit dem vom Halberstadter Gleimhaus verliehenen Gleim-Literaturpreis für kulturgeschichtliche Beiträge ausgezeichnet.

Ihr Buch öffnet dem Leser eine Welt, die in der Betrachtung überkommener Herrschaftsstrukturen bislang nur wenig Beachtung fand. Sie zeigt den kleinwüchsigen Menschen als aktiven Exponenten, als Intimus von Regenten, Vertrauensperson oder gar politischen Funktionär. Dabei bedient sie sich einer präzisen Sprache, deren manchmal poetische Anklänge die wissenschaftliche Sorgfalt keineswegs in Frage stellen. Den titelgebenden, plakativen Begriff des Hofzwergs verwendet sie aus der beschriebenen Epoche heraus, vermeidet ihn aber im Textfluss, wo er aus heutigem Verständnis diskriminierend wirken könnte.

Ausdrücklich differenziert Eva Seemann zwischen dem zur Narretei bestimmten Hofnarren und dem mit höfischen Aufgaben betrauten kleinwüchsigen Funktionsträger, wobei die Grenzlinie naturgemäß unscharf bleibt. Denn so manche dieser Funktionen erscheint uns Heutigen skurril bis bizarr, etwa wenn bei festlichen Tafeln aus überdimensionalen Torten Zwerge heraus steigen und Tänze aufführen oder Scheingefechte darbieten. Doch gerade in solch spielerischer Darbietung offenbarte sich für den Gesellschaftsmenschen früherer Epochen das „Körperwunder“, das durch die Verkleinerung des Maßstabes eine Steigerung der Wirkung und damit der Bedeutung zu erzielen verstand.

Der Zwerg und seine Wirkungsstätte: Perkeo an der Ecke Hauptstraße / Karfpengasse in der unteren Heidelberger Altstadt, oberhalb des ehemaligen Gasthauses „Zum Karpfen“; das Schloß war natürlich, als das legendäre Faß leergesoffen wurden, noch keine Ruine. Bilder: Sigler

Das Buch, dessen Recherchen vielfach auf Auswertung höfischer Geschäftsbücher und Register beruhen, bietet ein sehr plastisches Bild der Lebensverhältnisse auf einem fürstlichen Hof mit seinen alltäglichen Belangen und seiner meist auf Repräsentation ausgelegten Festkultur, wobei einem nicht seiner Abstammung, sondern seiner körperlichen Geratenheit wegen in diese weitgehend geschlossenen Gesellschaft einbezogenen Kind aus dem Volk eine rührende, das kühle Protokoll wohltuend aufweichende Rolle zufällt. Sogenannte Hofzwerge konnten durchaus in den inneren Kreis monarchischer Administration gelangen und bewährten sich dort als politische Ratheber, übernahmen diplomatische Aufträge oder wurden den fürstlichen Herrschaften liebgewordene Gefährten.

Für die Couleurstudenten und Studentenhistoriker sei ergänzt, dass natürlich auch die Perkêo-Gestalt in diesem Buch nicht unerwähnt bleibt, die durch die Balladendichtung des Joseph Victor von Scheffel eine – freilich verklärte – Kneip- und Kommersqualität gewonnen hat. Die Autorin widmet ihm ein mehrseitiges Unterkapitel mit zwei Abbildungen, worin sie die bekannten Legenden und Anekdoten referiert, aber berechtigt deren mangelnde Verifizierbarkeit betont. Jedenfalls können wir die Lebens- und Wirkungszeit des bürgerlich Clemens geheißenen und vom Kurfürsten liebevoll Clementel genannten Hofschalks im frühen 18. Jahrhundert annehmen; eine präzise Datierung ist nicht möglich.

Johann Georg Dathan: Hofnarr Clemens Perkeo vor dem Schwetzinger Schloss, entanden um 1725. Kurpfälzisches Museum, Heidelberg.

Auch verweist sie auf die im Vergleich mit anderen Hofzwergen eher ungewöhnliche Tatsache, dass er nicht als Kind, sondern erst als junger Mann in den fürstlichen Dienst getreten sei und äußert die berechtigte Vermutung, dass er weniger durch seine körperliche Erscheinung als durch Trinkfestigkeit und seinen urwüchsigen Witz Aufmerksamkeit erregt hätte. Beim Gemälde des Hofmalers Johann Georg Dathan weist sie ausdrücklich auf die Geste der linken Hand hin, den zur Nase geführten Daumen, die sie als typische Spottgeste deutet. Und sie führt den Blick des Betrachters zu dem kaum auffälligen Vogel in der rechten oberen Bildecke, wohl eine Zwergeule, womit sowohl ein spezielles Narrensymbol zitiert, als auch auf die Kleinwüchsigkeit des Porträtierten angespielt wird. Wie großartig sie es versteht, ihre Darlegungen in einen größeren Zusammenhang zu stellen, beweist ihr Hinweis auf die gleichartige Vogeldarstellung im Porträt des mediceischen Hofzwergs Nano Morgante durch den florentinischen Maler Agnolo Bronzino.

Auch das zweite abgebildete Porträt eines unbekannt gebliebenen Malers, das Perkêo in Gesellschaft eines Mandrills zeigt, entschlüsselt sie durch Hinweise und Querverweise auf die Rolle des Affen als närrisches Attribut, aber auch auf den animalischen Kontext, der in der Beurteilung Kleinwüchsiger in der Kunst und Wissenschaft der frühen Neuzeit offen zutage trat. Bei all diesen höchst interessanten Gesichtspunkten erwähnt sie immer wieder die diesbezügliche weiterführende Literatur.

Der Aufstieg eines klein Geborenen zu einer Karriere bei Hof war natürlich auch ein sozialer; er schuf öffentliche Anerkennung, materielle Sicherheit und langfristige Versorgung. Oft profitierten selbst die Familien von dieser noblen Laufbahn, die gelegentlich zu tatsächlicher Nobilitierung führen konnte, wie das Beispiel des auf dem Titel des Buches abgebildeten Johann Franz von Meichelböck zeigt, des im Buch vielfach genannten „Hochfürstlichen Hof- und Kammerzwergs“ der Salzburger Fürsterzbischöfe Harrach und Firmian.

Für die Couleurstudenten und Studentenhistoriker sei ergänzt, dass natürlich auch die Perkêo-Gestalt in diesem Buch nicht unerwähnt bleibt, die durch die Balladendichtung des Joseph Victor von Scheffel eine – freilich verklärte – Kneip- und Kommersqualität gewonnen hat. Die Autorin widmet ihm ein mehrseitiges Unterkapitel mit zwei Abbildungen und verweist darin auf die diesbezügliche weiterführende Literatur. Wobei die Literaturangaben ohnehin imponierend sind! Sie stehen nebst einem Namensregister am Buchende, finden sich vielfach aber auch als Fußnoten zu den entsprechenden Textstellen gestellt, was ich als angenehm empfinde, weil damit lästiges Hin- und Herblättern vermieden wird. Die weit mehr als 1300 Fußnoten beweisen auch die Akribie, die dieser außergewöhnlichen Arbeit zugrunde liegt.

Mit der Figur des „Hofzwerges“ gewinnt in Eva Seemanns reich illustriertem Band eine Geschöpf Kontur, das zumeist als historisches Requisit allgemeinen klischeehaften Vorstellungen verhaftet bleibt. Die Lektüre dieses Bandes ist also mehr als nur informativ. Sie ist die Erschließung einer untergegangenen Subkultur, in der die individuelle Profilierung des Außenseiters sich als erstaunlich und erfreuliche Realität erweist.

Raimund Lang

Eva Seemann, Hofzwerge – Kleinwüchsige Menschen an deutschsprachigen Fürstenhöfen der Frühen Neuzeit, Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 24; Göttingen 2023, 520 Seiten, gebunden, 65 teils farbige Abb., Schutzumschlag, ISBN 978-3-8353-5414-2, 45 Euro.

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