Am Wochenende vom 19. bis 21. November 2021 fand eine gemeinsame Studentenhistorikertagung des AKSt und der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg statt. Das Thema war „Jüdische Korporierte, jüdische Korporationen“, das Spektrum reichte von Theodor Herzl bis zu den paritätischen Verbindungen im Burschenbundsconvent (B.C.), von Heidelbergs jüdischen Verbindungen bis zu den Korporationen in der Donaumonarchie, speziell im heute zur Ukraine gehörenden Czernowitz.
Mit einem langen und warmherzigen Grußwort des Hausherrn wurden die Tagungsteilnehmer begrüßt. Als Veranstalter fungierte der Hochschulrabbiner Shaul Friberg, Mitglied der Kalmar Nation Uppsala. Die Leitung lag bei Dr. Sebastian Sigler Masoviae Königsberg zu Potsdam. Zu Beginn wurde ein Grußwort des Heidelberger Oberbürgermeisters Prof. Dr. Eckart Würzner Sueviae Heidelberg verlesen, überregionale Medien hatten bereits im Vorfeld berichtet, die Jüdische Allgemeine sollte bald folgen, sowohl gedruckt wie online. Die Rhein-Neckar-Zeitung brachte sogar eine ganze Sonderseite!
Die einführenden Worte lagen bei Rabbiner Friberg, denn er hatte auch darum gebeten, dass diese Tagung an der HfJS stattfinden möge. Er hatte zudem den Ablauf der der Tagung analog zur 80. deutschen Studentenhistorikertagung im März 2021 mitgestaltet. Nun erklärte er den zuweilen komplexen Zusammenhang zwischen jüdischen Gemeinden und korporierten Studenten aus jüdischer Sicht. Er betonte, dass ihm die Erforschung jüdischer Korporationen, die hier gewissermaßen eine Schnittmenge darstellen, besonders wichtig sei. Das stieß auf freudiges Interesse bei den überwiegend buntbemützt im Hörsaal S 4 erschienenen Studentenhistorikern: Ja, in der HfJS wurde Couleur getragen! Friberg selbst trug zunächst nur seine Kippa, doch dann sagte er plötzlich schelmisch: „Ich bin auch einer von Ihnen!“ – sprach’s und setzte sich ebenfalls seine Verbindungsmütze der Kalmar Nation Uppsala, die er mitgebracht hatte, auf dem Kopf: „Wer einmal Student gewesen ist, bleibt es ein Leben lang!“ Er stellte sich damit in die Tradition der Korporierten, die unser Titelbild dieses Beitrags zeigt. Es sind die Aktiven der jüdischen Verbindung J.V.St. Ivria, im Sommer 1920, mitten in der Heidelberger Altstadt. Der Rabbiner ergänzte, die Fähigkeit zu kritischer Vernunft sei dem Menschen eigen, dem Studenten sei sie allemal umso mehr zu wünschen.
Das erste große Referat der Tagung hatte Prof. Dr. Dr. Harald Lönnecker von der TU Chemnitz übernommen. Er sprach über „Demut und Stolz, Glaube und Kampfessinn – konfessionell gebundene Verbindungen: protestantische, katholische, jüdische“. Damit ordnete er die jüdischen Verbindungen, die uns Heutigen so exotisch erscheinen, als kongeniale Brüder heutiger Korporierter ein.
Der Vortrag von Professor Lönnecker kann hier angeschaut und nachgehört werden.
Wie das am Beispiel Heidelbergs aussah, erklärte danach Dr. Gerhard Berger. Er referierte über Heidelberger jüdische Verbindungen, deren Bandbreite von zionistisch bis deutschnational reichte. Zum akademischen Leben gehörten sie ganz selbstverständlich dazu: die Badenia, die aus ihr hervorgegangene Bavaria, die Ivria, der zum Beispiel Nahum Goldman angehörte, die Saxonia sowie diverse wissenschaftliche Vereine, in denen sich Studenten – und natürlich auch Studentinnen! – jüdischen Glaubens trafen und austauschten.
Hier der Vortrag von Dr. Gerhart Berger über Heidelbergs jüdische Studentenverbindungen.
Der hier wiedergegebene Vortrag ist nicht komplett. Es fehlt ein kurzer Schlußteil über die wissenschaftlichen jüdischen Vereine, die kein Couleur trugen. Die Tonspur enthält ein Echo, das dort nicht hingehört. Wir bitten die Qualität zu entschuldigen.
Für den Abend waren die Tagungsteilnehmer auf das Haus des Corps Suevia Heidelberg gebeten. Der Empfang war sehr liebenswürdig und glänzend organisiert. Höhepunkt des Abends war ein Vortrag von Dr. Jürgen Herrlein, dessen Muttercorps die aus Prag stammende Frankfurter Austria ist, über die Familie Přibram – übertitelt waren seine Worte mit „Prager jüdische Corpsstudenten und ihr Umfeld“. Versiert und genauso auch unterhaltsam waren seine Worte, beschwingt war danach ein langer Abend. Die rund 70 Gäste – wohl die Hälfte davon von der HfJS und aus örtlichen jüdischen Gemeinden – waren von der Gastfreundschaft der Schwaben geradezu überwältigt.
Im ersten Vortrag am Sonnabend kam das Wirken des bedeutenden Zionisten Theodor Herzl zur Sprache. Der Referent fragte, ob die Basler Zionistenkongresse – sie bildeten die geistige Grundlage für die praktische Umsetzung der Gründung Israels – als studentenhistorische Ereignisse aufzufassen sind, und belegte überzeugend, dass genau davon auszugehen ist. Das folgende Thema waren jüdische Studenten in Heidelberg nach 1933 – ein ernster, ja, erschütternder Befund, gerade auch für die Ohren von Studentenhistorikern. Dr. Norbert Giovannini, in Heidelberg und darüber hinaus ein gefragter Dozent, Pädagoge und Historiker, lieferte diesen gewichtigen Beitrag.
Die Tonart wechselte sodann. Prof. Dr. Roland Girtler aus Wien rundete in seiner unnachahmlichen Art den Vormittag mit einem launigen, aber fachlich großartigen Vortrag über den Anthropologen Franz Boas ab, er stellte diesen „als Burschenschafter, Wissenschaftler und Weltbürger“ vor. Ein fast ebenso versierter Weltbürger aber war in diesem Falle der Referent selbst – Girtler, der das Band des Corps Symposion in Wien trägt, ist nicht zuletzt durch seine legendären, weltweiten „Erkundungen“ eine Berühmtheit auf dem Gebiet der Soziologie. Sogar ein Reise per Fahrrad von Wien nach Heidelberg gehörte dazu! Obwohl Girtler das achte Lebensjahrzehnt bereits vollendet hat, publiziert er regelmäßig seine Kolumnen in einer überregionalen österreichischen Zeitung und gibt Bücher heraus.
Nachmittags wurden die Teilnehmer durch das jüdisch-akademische Heidelberg geführt, auch zu dem Lokal, in dem die zionistische Verbindung Ivria zu tagen pflegte: Fast meinten die Teilnehmer sie fröhlich auf der Straße beim Gruppenbild zu sehen, die alten Ivrianer, wie vor 100 Jahren. doch sie sind verschwunden. Besichtigt wurde auch der Platz der Alten Synagoge, der tags drauf Schauplatz einer denkwürdigen religiösen Zeremonie zum Andenken an die jüdischen Korporierten werden sollte, und das knapp oberhalb gelegene einstige Haus, das heute nach einer Stiftung eines einstigen jüdischen Studenten Heidelbergs „Sibely-Haus“ heißt und ein internationales Wohnheim für Wissenschaftler beherbergt: Dort wurde wahrscheinlich die zionistische Verbindung Ivria gegründet. Die Tagungsteilnehmer betraten auch den Ort des ehemaligen Judenfriedhofs, heute ist es ein Schulhof. Diese ausgezeichnete Führung hielt der in Heidelberg als Pädagoge und Historiker mit lokalem Bezug sehr geschätzte Dr. Norbert Giovannini. Ziel des Rundganges war schließlich das Haus Hauptstraße 244, das bis 1934 dem unter dem alten Namen Badenia firmierenden Altherenverband der deutschnational tendierenden, aber natürlich jüdischen K.C.-Verbindung Bavaria Heidelberg gehört hatte. Über dieses Haus berichten wir in einem eigenen Beitrag.
Bei dem Kaffee und koscherem Gebäck hielt Dr. Gerd Mohnfeld von der vertagten Burschenbunds-Verbindung Alsatia-Thuriniga Marburg einen berührenden Vortrag über paritätischen Verbindungen und das bisherige – und wohl endgültige – Ende ihres Aktivenbetriebs. BC-Verbindungen wie diese sind dabei Vorbilder, die in ihrer damaligen Konsequenz auch heute noch staunen machen und denen unbedingt nachzueifern ist: Die BC-Verbindungen hielten völlig unbeirrt am Toleranzprinzip fest, insbesondere auf religiöser Ebene. Sie taten dies auch dann noch unverändert und vorbildlich, als alle anderen Dachverbände – außer naturgemäß jüdische – bereits ihre unseligen „Arierparagraphen“ hatten, mit denen der häßliche, nackte Antisemitismus bemäntelt und schöngeredet wurde.
Nach Einbruch der Dunkelheit wurde von Shaul Friberg die Hawdala, die Zeremonie zum Ende des Schabbat, mit Kerzenschein und einem kleinen Schluck Wein gefeiert. Der Hochschulrabbiner reichte dazu auch die traditionelle Besamimbüchse mit den Gewürzen herum, die Anwesenden durften die aromatischen Gewürze einatmen. Ein erfrischender, belebender Moment des Innehaltens.
Das Abendprogramm enthielt fünf Vorträge, von denen vier hier Erwähnung finden können. Zuerst sprach Prof. Raimund Lang über den Schöpfer des Liedes „Ich habe mein Herz in Heidelberg verloren“, Fritz Löhner-Beda, der ebenso wie seine Familie grausamst ermordet wurde. Löhner-Beda, zugleich der begnadete Librettist von Operetten wie „Das Land des Lächelns“, wurde von KZ-Wächtern in Auschwitz buchstäblich zu Tode getreten. Dieser Vortrag war derart fordernd, dass eine Pause nötig wurde. Dr. Gregor Gatscher-Riedl folgte mit seinem Vortrag über jüdische Farbstudenten und Politik am Beispiel der Universität Czernowitz und ihrer jüdischen Verbindungen.
Zum Vortrag von Prof. Raimund Lang auf unserem Youtube-Kanal.
Es folgte das Referat von PD Dr. Axel Bernd Kunze über den jungen Bamberger Widerstandskämpfer und Sozialdemokraten Willy Aron, über das wir auf dieser Webseite auch in einem eigenen Beitrag berichten. Kunze beleuchtete eindringlich Arons kurzen Lebensweg über Würzburg, wo er bei der BC-Verbindung Wirceburgia aktiv war, in das Konzentrationslager Dachau, wo er im Mai 1933 kaltblütig ermordet wurde.
Zum Vortrag von PD Dr. Axel Bernd Kunze auf unserem Youtube-Kanal.
Den Abend beschloss Dr. Herwig Hofbauer mit seinen Erinnerungen an den österreichischen Ingenieur und Studentenhistoriker Fritz Roubicek, der neben der J.A.V Unitas Wien auch dem liberalen Corps Marchia Wien angehörte. Es war ein bewegendes Memento für einen Korporierten, der zur NS-Zeit als Kämpfer der französischen Résistance von dort aus den deutschen Behörden ausgeliefert und nach Auschwitz deportiert wurde. Roubicek mußte dort mehr als vier Jahre Todesangst durchstehen; er überlebte als einziger seiner Familie die Shoa und kehrte nach Wien zurück. Er blieb trotz seines Schicksals zeitlebens ein begeisterter Korporierter.
Hier die Aufzeichnung des Vortrags von Dr. Herwig Hofbauer: „Servus, Brünndel!“
Am Sonntag um 12 Uhr versammelten sich die Tagungsteilnehmer unter starkem Polizeischutz an der Großen Mantelgasse auf dem Platz, auf dem die Heidelberger Synagoge stand, bis sie in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 von Nationalsozialisten und deren willigen Mitläufern zerstört wurde. Viele weitere junge und alte Verbindungsstudenten und -studentinnen jeglicher Couleur hatten sich eingefunden, um der Opfer der unbegreiflichen Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten der Nazi-Zeit zu gedenken. Darüber berichten wir in einem eigenen Beitrag.
Dann sang Rabbiner Shaul Friberg das El male rachamim. Das ist hebräisch, es bedeutet „Gott voller Erbarmen“. In Europa sind verschiedene Versionen dieses Gebetes überliefert, das Juden seit dem Mittelalter zum Andenken an die Opfer von Pogromen und Kriegen und zur Anrufung Gottes nutzen. Der jüdische Kantor Shlomo Katz trug 1950 auf dem 22. Zionistenkongress in Basel eine neue Version vor. In den traditionellen Text hatte er die Namen der Vernichtungslager Auschwitz, Majdanek und Treblinka aufgenommen. An dieser Version orientierte sich Friberg.
Nach diesem El male rachamim dauerte es lange, bis die Teilnehmenden ihre Fassung wiedererlangt hatten, bis der Alltag zurückkehren konnte. Was bleibt, ist die Dankbarkeit für dieses Zeichen, auch seitens des Arbeitskreises, der viele neue Gäste begrüßen konnte, sowie die Hoffnung, mit dieser Veranstaltung in eine gute und friedliche Zukunft hineinzuwirken.
Wilson-Zwilling Franconiae München, Frankconiae-Jena zu Regensburg,
Sigler Masoviae Königsberg zu Potsdam, Guestphaliae Halle
Bildrechte: Titelcollage Sigler, mit Bildern aus dem Privatarchiv Sigler (4), Sickel (2) und Sammlung Berger (Ivria); erstes und zweites Bild im Fließtext: Sigler, viertes Bild: Stadtarchiv Heidelberg, fünftes und sechstes Bild: Sickel; Gedenkveranstaltung: Wilson-Zwilling, Panoramablld Gedenkveranstaltung: Wilstermann, übrige Bilder: rechtefrei
6 Kommentare zu “Alle Mitschnitte: „Jüdische Korporierte, jüdische Korporationen“ in Heidelberg”