Wo konnte aus studentischer Gesellung die Idee der Studentenverbindung wachsen?

Studenten haben seit dem Mittelalter miteinander gefeiert, gezecht, gestritten. Diese Form der Gesellung war immer speziellen Regeln unterworfen, stark mit dem Zeitgesit wechselnd. Wie, wann und warum verdichtete sich dieses Milieu zur einer Verbindungslandschaft? Und wo geschah das? Diese Fragen sind nicht abschließend geklärt. Ein Buch bietet jetzt Anlaß, darüber ein wenig nachzudenken.

Im mitteldeutschen Raum prägten bis ins 19. Jahrhundert gebietsmäßig stark zersplitterte Fürsten- und Herzogtümer die politische Landkarte. Häufig waren sie, vielleicht wegen ihrer geringen Größe, weniger strikt als die umliegenden großen Staaten, zuvörderst Preußen und Österreich, was die Einschränkung der persönlichen Freiheiten ihrer Bürger betraf. Eine Vorreiterrolle nahm das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach ein, auf dessen Gebiet Weimer, Jena und die Wartburg lagen. Welche Rolle spielt das für die Verdichtung der damals bereits jehrhundertealten studentischen Bräuche und Sitten zu dem, was wir unter Studentenverbindungen subsummieren? Ein neues Buch von Helge Hesse über Weimar, das die Epoche von 1756 bis 1933 behandelt, regt zum Nachdenken an.

Weimar hatte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen kulturellen wie wirtschaftlichen Niedergang mitgemacht. Bach, der hier einen Großteil seines Orgelwerkes komponierte, hatte 1717 entsetzt den Dienst quittiert, war daraufhin vom Herzog festgenommen worden, ließ sich aber vom Abgang nach Köthen nicht abhalten – symptomatisch diese Begebenheit. Änderungen ließen auf sich warten. 1756 übernahm Herzogin Anna Amalia, Witwe des früh verstorbenen Herzogs Ernst August II. Constantin, kaum 20jährig die Regentschaft im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Die junge Regentin begann unverzüglich, Politik und Kultur auf neue Weise in Einklang zu bringen. Der junge Johann Wolfgang von Goethe, Anwalt und aufstrebender Dichter in Frankfurt am Main, fand das attraktiv. Schiller, der Brausekopf aus Württemberg, bewarb sich in der zu Sachsen-Weimar-Eisenach gehörigen Universitätsstadt Jena. Christoph Martin Wieland, der Prinzenerzieher, und Johann Gottfried Herder, das „Wunderkind“, kamen an den Weimarer Hof.

Der Aufschwung, den die kleine, abgelegene Residenzstadt nahm, kann beispiellos genannt werden. Die Grundlage dafür war eine größere Rede- und Versammlungsfreiheit als in den umliegenden Staaten. Intellektuelle wurden in Weimar weniger kujoniert und wohl auch weinger bespitzelt. Daher war Weimar attraktiv. Hesse weiß um die Feinheiten, die Interaktion zwischen den Akteuren. Seine Erläuterungen zum herzoglichen Haus ebenso wie zur politischen Gesamtlage erschließen dem Leser ein tieferes Verständnis Weimars ab dem 18. Jahrhundert. Dabei unterlässt er es, in einen trockenen oder gar in einen dozentenhaften Ton zu verfallen, was ja so leicht wäre. So haben die Leser, die über ein Mindestmaß an historischer Vorbildung verfügen, sehr schnell ihre Freude an diesem Buch, denn es weitet den Blick, es ermuntert abseits des theoretischen Diskurses, der schnell sehr trocken werden kann, zum Nachdenken.

Von Weimar aus regiert: Die Stadt Jena um 1800, örtliche Heimat des Corpsstudententum ebenso wie der Urburschenschaft: Jena um 1800“, Städtische Museen Jena, Lizenz CC BY-NC-SA.

Für Studentenhistoriker ist ein speziell dieses Herzogtum von großem Interesse, denn sowohl die Universitätsstadt Jena als auch die Wartburg lagen auf dessen Staatsbbiet. Die Frühromantiker um August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck, Novalis und Friedrich Schlegel hatten sich in den Jahren vor 1800 in Jena versammelte. Sie waren verbunden in dem Bewusstsein, an einem geistigen wie kulturellen Brennpunkt in einem längst verglimmenden Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einen Neuanfang zu wagen. Geheimrat v. Goethe war für die Universität Jena zuständig. Er ließ örtliche Freiheiten zu, wodurch die sich studentische Verfasstheit und studentisches Ritual in Jena freier entwickeln konnten als in den umliegenden Staaten. Bald schon entstanden in dieser Atmosphäre die Landsmannschaften alter Prägung. An den kaum eine Tagesreise von Jena entfernten Universitäten von Halle und Leipzig kann das den Studenten schon aus dem praktischen Grund der örtlichen Nähe nicht verborgen geblieben sein. Jena strahlte aus bin in das von liberalem englischen Geist geprägte Hannover, zur Universität Göttingen, und ins preußisch kontrollierte Franken, nach Erlangen, nicht zuletzt auch ins ebenfalls liberal tendierende Baden. Studentische Kränzchen und Studentenorden standen erstens in Blüte und zweitens von Beginn an in Konkurrenz zueinander. Vor dieser hier nur angedeuteten historische Folie muß weiter und genauer als hier möglich darüber nachgedacht werden, woher eigentlich die ältesten Studentenverbindungen kamen.

Als bedeutend erweis sich ein Beitrag, der wenige Jahre zuvor aus Königsberg gekommen war. Immanuel Kant hatte seine Leser zum Gebrauch des eigenen Verstandes ermächtigt, und zwar durch eine bahnbrechende Veröffentlichung: „Die Kritik der reinen Vernunft“ stellte den Menschen in den Mittelpukt des Denkens. Nicht mehr Sachzusammenhänge, die als gegeben hinzunehmen waren, stellten für ihn die Richtschnur dar, sondern der menschliche Verstand. Nur als Exkurs sei hier festgehalten, daß dieses Werk 1781 erschien und alsbald große Wirkung entfaltete. Wie stark ist eine neue Form studentischer Gesellung, die sich in den folgenden drei Jahrzehnten entwickelte, von Kant beeinflusst? Die Kannezahlen für diese Epoche sind 1789, als in Halle das Westphälingerkränzchen erstmals aktenkundig wurde, 1798, als in Erlangen mit der Schwarzen Gesellschaft das spätere Corps Onoldia auftritt, 1799, als sich ein Westphälinger-Kartell Halle-Jena-Erlangen bildet sowie 1810, als sich eine bereits früher bestehende Suevia erstmals „Corps“ nennt, was sich im altlandmannschaftlichen Bereich in den folgenden Jahren durchsetzen sollte.

Lohnende Lektüre: Der Geist von Weimar als Versprechen, eingefangen von Helge Hesse

Zurück nach Sachsen-Weimar-Eisenach. Ungefähr zu dieser Zeit läßt sich dann eine direkte Verbindungslinie zwischen der Ausrufung der Urburschenschaft in Jena im Juni 1815 und dem Wartburgfest im Oktober 1817 erschließen. Kritisch zu den burschenschaftlichen Aktivitäten standen die Altlandsmannschaften, die als Corps zu betiteln begonnen hatten. Diese Konkurrenz untereinander ebenso wie die unterschiedlichen Versammlungen waren möglich durch die Pressefreiheit, die unter Herzog Carl-August in Sachsen-Weimar-Eisenach herrschte und durch Goethe vertreten wurde – anders als im benachbarten Preußen, anders als in den übrigen Rheinbund-Staaten, in denen der Einfluss Metternichs stark war. Kritik an der Burschenschaft kam auch von hier. Ein Kapitalverbrechen, der Mord am Schriftsteller von Kotzebue, war 1819 der Anlaß, um die Presse- und Versammlungsfreiheit mit den Karlsbader Beschlüssen fast überall zu kassieren – aber nicht in Sachsen-Weimar-Eisenach.

Immer wieder und immer neu lesen wir bei Hesse, wer in Weimar wann mit wem in Kontakt kam. Das ist wichtig, um die entscheidenden Voraussetzungen für die kulturelle Blüte von 1756 bis in die 1920er Jahre zu verstehen. Arthur Schopenhauer trat auf den Plan; Franz Liszt gab der Musik unerhörte Impulse, Harry Graf Kessler und Henry van de Velde standen – und  stehen – für die Vertreter der modernen Kunst und Architektur. Zuvörderst wegen der Bedeutung der Stadt für die Kultur wurde dort 1919 die Verfassung der ersten deutschen Republik beschlossen. Walter Gropius gründete in Weimar mit dem „Bauhaus“ eine Schule des Sehens und der Gestaltung, die bis heute alle Gebiete des Designs und der Gestaltung beeinflusst. Gekonnt holt Hesse den Leser ab, der vor allem an Goethes Gartenhaus denkt, wenn ihm Weimar in den Sinn kommt, indem er immer wieder mal Bezüge zum bedeutenden Dichterfürsten herstellt. In einer Zeit, in der von der Kulturellen Identität bis zum Geschlecht des Menschen alles auf den kulturellen Prüfstand gestellt und im Zweifel als angebliche „Aneignung“ verworfen wird, ist das ein Zeichen wohltuender Orientierung.

Das Buch bietet eine exzellente Grundlage, um abseits läppischer Zeitströmungen über die philosophische Grundlage heutiger Studentenverbindungen nachzudenken, aber auch über ihre Fragilität. Mit dem Schlusspunkt seiner Betrachtungen hat Hesse eine weitere implizite, aber nicht unwichtige Aussage getroffen: Die klassische Zeit als Kulturmetropole ging für Weimar bereits 1926 zu Ende, als die NSDAP ausgerechnet hier ihren ersten Reichsparteitag abhielt. Weimar war fortan eine Hochburg des Nationalsozialismus mit überdurchschnittlich guten Wahlergebnissen für Hitler. Was kam – davon kündet das vor den Toren Weimars gelegene Konzentrationslager Buchenwald. Doch der Autor hat den Schlusspunkt seiner Betrachtungen vor diese historische Zäsur gelegt, und zwar mit Recht. Die Zeit ab 1756 bis kurz vor den Bruch von 1933 bildet tatsächlich eine erkennbare Epoche.

Hesse gelingt es insgesamt, aus einem prinzipiell nostalgischen Kulturverständnis heraus ein Versprechen für die Zukunft abzuleiten – und zwar über den Bruch aller Menschlichkeit hinaus, der 1933 verschuldet wurde. Hesses eleganter Salonstil signalisiert, dass kein wissenschaftliches Werk vorgelegt werden sollte, sondern ein elegantes „coffetable“-Buch, das durch kluge Anmerkungen allgemeingeschichtlicher Art zur Beschäftigung mit der Materie im speziellen anregt. So ist denn vielleicht auch das Wort „Versprechen“ im Titel zu verstehen – jeder ist aufgerufen, das kulturelle Erbe Weimars für sich zu entdecken, denn 1933 wurde es von einer deutschen Gesellschaft, die sich mehrheitlich dem Nationalsozialismus ergeben hatte, rundweg ausgeschlagen.

Die Frage, woher Studentenverbindung denn un kamen, wird in diesem Buch nicht gelöst, ja, sie wird direkt nicht einmal angeschnitten. Und dennoch ergeben sich interessante Ansaütze für diese Frage, und das vielleicht gerade deswegen, weil der autor sich nicht auf Verbindungen kapriziert, weil er ihnen, so scheint es jedenfalls, wenig positive Aspekte abgewinen kann. Aber das muss ja auch gar nicht sein! Der Reclam-Verlag jedenfalls, für sorgfältige Editionen und bibliophile Ausgaben bekannt, hat ein schönes, handliches Buch produziert, ein Lesefaden und der ansprechend gestaltete Schutzumschlag können erfreuen. Mit Bedauern muss der Leser aber auf ein Register verzichten; lediglich sehr knappe, allgemeine Literaturangaben sind beigegeben.

„Das wissen die Studenten wohl, in Jena, Leipzig, Halle“ – durch die Lektüre des Weimar-Buches von Helge Hesse gewinnen Verbindungsstudenten eine Ahnung davom, daß speziell in dieser scheinbar beliebigen Liedzeile viel altes Wissen um den Ursprung der Studentenverbindungen an sich stecken könnte. Ob’s auch stimmt? Der Autor löst zumindest sein Versprechen, uns zu unterhalten und zur mit Wissensmehrung beizutragen, elegant ein.

Sebastian Sigler

Helge Hesse, Ein deutsches Versprechen. Weimar 1756 – 1933. Die Bedeutung Weimars für die weltweite Kunst und Kultur, Stuttgart 2023, ISBN 978-3-15-011436-0, gebunden mit Schutzumschlag, Lesefaden, 283 Seiten, 28 Euro.

Indexbild: „Goethes Gartenhaus in Weimar mit dem 1777 errichteten Altan“, Aquarell von Georg Melchior Kraus (Ausschnitt) / vordere Umschlagseite des besprochenen Werkes.

Dieser Text ist eine um studentenhistorische Aspekte erweiterte Rezension, die zuerst in der Netzzeitung Tabula Rasa erschienen ist.

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