Richtschnur oder Antipode? 175 Jahre Kösener Senioren-Convents-Verband

Am 15. Juli 1848 wurde der Kösener Senioren-Convents-Verband in Jena gegründet – 175 Jahre ist das her. Pünktlich erschien jetzt eine bis in die aktuelle Zeit reichende Chronik aus der Feder des versierten und bewährten Rolf-Joachim Baum Bavariae Würzburg, eines Mediziners und Studentenhistorikers. Ein konstitutives Werk für einen Verband, der allein schon aufgrund seines Alters ein Maßstab ist.

Ein formidables und dennoch bescheidenes Werk: die Festschrift des KSCV zu seinem 175. Geburtstag

Die Corps an und für sich sind politisch strikt neutral, ganz im Gegensatz zu manchen jüngeren Mitbewerbern auf dem Feld der studentischen Gesellung. Aber die Jahreszahl der Gründung, 1848, läßt doch aufhorchen. Und tatsächlich, diese Gründung war ein Politikum, sie geschah keinesfalls ohne Bezug zur damaligen Gegenwart. Daher ist es umso bemerkenswerter, daß die strikte Neutralität in parteipolitischer Hinsicht Markenkern der Corps wurde – und bis dato blieb. Aber ist ein Verband nicht unbedeutend, wenn er nur für sich stehen, nur für sich selbst sprechen möchte? Oh, nein!

Die Kösener waren die Ersten, sie setzten den Maßstab, zunächst allein aufgrund ihres Alters, dann aber zunehmend auch wegen ihrer gesellschafltichen Relevanz. Deswegen ist diese Chronik bedeutsam für alle Korporierten, auch wenn der Glanz des Kösener Senioren-Centvents-Verbandes, kurz KSCV, in den Zeitläuften durchaus Kratzer und Dellen abbekam. Was vor 175 Jahren in Jena geschaffen wurde, unterschied sich eminent von der Art der Gesellung, die in Ländern wie Schweden, Polen und erst recht Frankreich und Italien parallel zu beobachten ist. Für alle folgenden Verbindungen im mitteleuropäischen Kontext war der KSCV die Richtschnur, entweder in direktem Bezug oder – ganz im Gegenteil – als Beispiel dafür, wie man dann vielleiucht gerade nicht sein wollte.

Spricht für sich: die Reihe der Alten Herren der Kösener Corps seit 1789, besonders aber zur Zeit des Wilhelminischen Kaiserreiches

Es geht um Distinktion, der unterscheidbarkeit der Farben ist exakt darin begründet. Natürlich wollte sich also auch jede Richtung im Verbindungswesen möglichst deutlich abheben – aber wovon? Doch wohl zuvörderst vom zuerst gegründeten Verband, vom KSCV! Hier ist also, wenn diese Chronik zur Lektüre empfohlen wird, keine Wertung über die Bedeutung, Inhalte oder Sinnhaftigkeit anderer Dachverbände im Vergleich mit dem Kösener Dasein gemeint, und das wollte der Autor, Baum Bavariae Würzburg, auch gar nicht. Er enthält sich diesbezüglich jeder Wertung und glänzt stattdessen mit einer Fülle von Fakten, die er samt und sonders sauber aufschlüsselt und gut sortiert vorlegt.

Vorbild in der Gestaltung des überregionalen Miteinanders von Studentenverbindungen und zugleich Erster in der Anciennität sowie im gesellschaftlichen Ansehen zumindest bis in die 1920er Jahre – das ist, folgt man Baum, der KSCV. Mehr nicht, weniger aber auch nicht. Und an dieser historischen Tatsache ist aufgrund des Gründungsdatums kein Vorbeikommen. Der Autor belegt dies mit trotz großer Faktenfülle immer knappen und zielführenden Schilderungen. Er geht zunächst kurz auf die Vorgeschichte ein, nennt Orte und Personen, die wesentlichen Linien behält er immer im Blick. Wer diesen Band liest, und das geht flüssig und zügig, der kennt nach mehr als 230 eng beschriebenen Buchseiten die Grundzüge der Geschichte des KSCV. Ein ausgezeichnetes Lehrbuch liegt hier also vor. Kompliment! Zur Lektüre eingeladen sind Angehörige aller Dachverbände, denn sie erfahren indirekt viel über ihre eigene Art, Band und Mütze zu tragen.

Inhaltlich ist dieses Buch, es klang bereits an, als stark zu bezeichnen. Das ist entscheidend. Nicht unterschlagen werden soll indes, daß kleine Merkwürdigkeiten diesen auf den ersten Blick eigentlich so solide wirkenden Band ebenso kennzeichnen. Auf Seite 167 wurden anstelle mathematischer Pluszeichen (die in einem Fließtext ohnehin fehl am Platz sind) Sterbekreuze verwendet worden. Als Schriftart wird Times New Roman gewählt, die Fußnoten sind dabei nur einen Punkt kleiner als der Fließtext, die Fußnotenzeichen sind nicht hochgestellt – etwas unübersichtlich ist das. Auch der Fließtext selbst enthält zuweilen kleine Kollisionen, wie im letzten Absatz auf Seite 201, die einem Lektorenauge schlichtweg nicht entgehen dürfen. Auf Seite 221 wird schließlich die Saaleck gezeigt, aber in der Bildunterschrift als Rudelsburg bezeichnet – auch so etwas dürfte im Lektorat gerne auffallen, denn einem fällt es ganz gewiß auf: dem Leser. Wahrscheinlich ist das Buch zudem nicht im VLB gelistet, online ist das Buch lästigerweise schwer zu finden. Nicht eineml der große US-Monpolist hat es im Programm. Schade.

Schon immer sich selbst genug: Kösener Corpsstudenten auf der Rudelsburg

A propos Bilder. Die Auflösung und Bearbeitung der Bilder hat durchweg eine verbesserungswürdige Qualität, und zwar auch, wenn der Zustand des häufig sehr musealen Ausgangsmaterials in Rechnung gestellt wird. Erkennbar wurde im Internet nach Bebilderung recherchiert. Insgesamt entsteht in der Synopse von Text- und Bildgestaltung der Eindruck eines Skripts für ein Oberseminar, auch durch geringen Durchschuß im Fließtext und ungewöhnlich knapp gewählte Randmaße. Das sehr schön gewählte, matt gestrichene Papier mit geringem Volumen einerseits sowie der fabelhaft gearbeitete Einband andererseits können diesen gewissermaßen etwas gequetschten Leseeindruck nur zum Teil ausgleichen. Unperfekt ist das Corpsstudententum, aber immer interessant und nie irrelevant – dieses Buch ist gewissermaßen ein Abbild des KSCV. Doch von außen ist der Corpsverband ja piekfein, jedenfalls möchte er es sein, und dementsprechend edel kommt die schlichte und traditionelle Gestaltung des Buchtitels daher. Auch wenn augenscheinlich in der Druckvorstufe nur ein einfaches Repro zugrundegelegt wurde.

Gar nicht hoch genug kann es dem Verfasser, Baum Bavariae Würzburg, angerechnet werden, daß er sich nach der überaus weitverbreiteten und vielbeachteten Festschrift zum 150. Geburtstag des KSCV 1998 abermals aufgetan hat. Erfahrung und tiefes Wissen sprechen aus seinem Werk. Unbeschadet kleiner Merkwürdigkeiten ist dies ein Buch, das in alle studentenhistorischen Bibliotheken gehört, durchaus in diejenigen, die anderen Dachverbänden zuzuordnen sind. Distinktion, auch untereinander, ist schließlich das Lebenselixier jeder Art der studentischen Gesellung. Fazit: Trotz kleiner Schwächen eine sehr empfehlenswerte Lektüre für Korporierte aller Dachverbände!

Sebastian Sigler

Rolf-Joachim Baum, 175 Jahre Geschichte und Chronik des Kösener Senioren-Convents-Verbandes 1848 – 2023, Wachtberg 2023, geb., 288 Seiten, zahlreiche Abb. im Text, ISBN 978-3-948899-07-3, 25 Euro. Bezugadresse: D. & L. Koch Verlag, Ölbergstraße 10, 53343 Wachtberg.

Schreibe einen Kommentar