Die J.A.V. Ivria Wien ist untergegangen – die Shoa kannte keine Gnade. Harald Seewann versteht es trotzdem, die Aktivitäten der Ivria seit 1891 und ihr Nachleben bis in die 1990er Jahre gleichermaßen lebendig werden zu lassen. Dokumentationen wie diese sind unverzichtbar, um das jüdisch-studentische Erbe als Erinnerungsschatz zu bewahren.
Eine jüdische Verbindung, im Jahre 1891 in Wien gegründet, jüdisch-national, die zweitälteste nach der legendären Kadimah, zu der Harald Seewann im übrigen gleich mehrfach publizierte – und wie diese im Jahre 1938 von den Nationalsozialisten unter Zwang aufgelöst. Das sind die Eckdaten, doch dazwischen ist ein reiches, studentisch-kulturelles Erbe zu entdecken. Auf 518 Seiten, teils Text, teils Faksimile, nimmt Harald Seewann mit in diese Welt, die zwar unterging, die uns aber doch so nah ist, wenn wir es nur zulassen.
Ja, nach dem Holocaust war kein Aktivenbetrieb der Jüdisch-Akademischen Verbindung Ivria mehr möglich, denn mehr als ein Viertel aller Mitglieder war in der Shoa, im Holocaust ermordet worden, die Überlebenden waren in alle Welt zerstreut, die Erinnerung musste Stück für Stück an neuem Ort bewahrt werden. In einem bemerkenswerten, Aktualität atmenden Schlußteil zeigt dieses Werk einige ausgewählte Photographien – allerdings nur in xerographischer Wiedergabe, was die Qualität merklich mindert. So richte der geneigte Leser sein Augenmerk auf die Tatsache, daß die Informationen nun überhaupt verfügbar sind. Und eine ausgewählte, aber enthusiastische Leserschaft tut dies regelmäßig – dankbar für die unermüdliche Arbeit, die Harald Seewann mit seinen Dokumentationen leistet.
Ganz systematisch führt Seewann seine Leser durch die Geschichte der Wiener Ivria. Zunächst die wichtigen Attribute, angefangen bei Band und Zirkel, danach eine zwanzigseitige kleine Geschichte der Ivria, verpackt in eine Erinnerungsschrift, zuerst erschienen im dritten Band des wegweisenden Werkes „Zirkel und Zionsstern“, Seite 67 – 83. Anmerkungen sorgen dafür, daß dieser Text gut einzuordnen ist. Der Hinweis, daß von 136 Ivrianern mindestens 37 ihr Leben in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten lassen mussten, fehlt nicht. Erhalten sind zum Glück mehrere Statuten der Ivria, an denen sich die wandelnden Anforderungen und Ansichten ablesen lassen. Harald Seewann bringt sie alle chronologisch; Mitgliederlisten schließen sich an. Die Wissensgrundlagen sind damit gegeben.
Auf gut 100 Seiten schließt sich sodann eine bemerkenswerte Sammlung von Quellen an, die Harald Seewann in gekonnter Manier – man muß wissen, wo man suchen soll – und mit enormem Fleiß zusammengetragen hat: Veranstaltungsberichte, Rundschreiben und vor allem eine erstaunliche Zahl von Zeitungsberichten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, darunter auch die Grußadresse Theodor Herzls, dem die Ivria das Ehrenband verlieh. Nicht zu vergessen eine große Anzahl protokollierter Ehrenange-legenheiten, denn die Judenfeindschaft war im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts allgegenwärtig. Dann die Paukprotokolle, denn die Ivria vertrat ab ihrer Stiftung konsequent das Prinzip der Satisfaktion. Und natürlich die Kriegsberichte, im Widerschein des Unterganges der Donaumonarchie, schließlich der tödlich anschwellende Antisemitismus – und der Untergang, 1938 behördlich verfügt.
Als Altherrenverband hat Ivria Wien in Palästina, aus dem dann der Staat Israel wurde, eine zweite Heimat gefunden. Dieser Bund nannte sich IGUL, was auf deutsch „Ring der Altherrenverbände der zionistisch-akademischen Verbindungen und Studentenvereine“ bedeutet. Der Herausgeber dieser Dokumentation ist Träger des IGUL-Ehrenbandes – und hier wird einmal mehr sichtbar, warum, denn ein Gesamtbild von Ivria entfaltet sich. Ein gründliches Quellenstudium ist natürlich nötig, um dieses Bild dann auch vollständig wahrzunehmen, aber mit diesem Kompendium bestens möglich. Dies ist, zusammen mit den vorher gebrachten Daten, eine vorzügliche Quellensammlung, aus der ein versierter Historikerkollege Seewanns hoffentlich eines Tages eine knappe, vollständige, elegante Darstellung der Geschichte der Ivria machen könnte. Diese Quellen aber bereitgestellt zu haben, ist das große Verdienst Seewanns. Der in Graz wirkende Studentenhistoriker, längst mit einem Professorentitel geehrt, arbeitet, so hoffen seine Weggefährten, an einer Gesamtdarstellung – auf seine Art. Diese möge gelingen!
Sebastian Sigler
Prof. Harald Seewann (Hrsg.), J.A.V. Ivria (1891 – 1938), Belege-Sammlung zur Chronik einer Wiener jüdisch-nationalen Studentenverbindung, Graz 2023, 518 Seiten, zahlreiche Abbildungen s/w, im Buchhandel nicht erhältlich, für 36 Euro plus Porto zu bestellen unter: c.h.seewann@aon.at oder bei: Prof. Harald Seewann, Resselgasse 26, A-8020 Graz.
2 Kommentare zu “Die lebendige Welt einer einstigen jüdischen Korporation: J.A.V. Ivria Wien”