Kadimah Wien: Harald Seewann dokumentiert die Bedeutung der ältesten jüdischen Verbindung

Professor Harald Seewann, der bekannte Grazer Historiker, hat eine Dokumentation über die älteste jüdisch-nationale Studentenverbindung, die A. V. Kadimah in Wien, herausgegeben. Nach seinem Schlüsselwerk „Zirkel und Zionsstern“ hat er damit abermals eine bedeutende Lücke in der Historiographie der jüdischen Verbindungen vor deren Untergang in der Zeit des Nationalsozialismus geschlossen.

Der Akademische Verein Kadimah, 1882 gegründet, war die älteste jüdisch-nationale Verbindung der Welt. 1938, mit dem Einmarsch von SS und deutschen Truppen nach Österreich, war das Ende des Aktivenbetriebs in Wien besiegelt – das Verbot wurde unverzüglich ausgesprochen, die Mitglieder erlitten schärfste Verfolgung. Zuvor jedoch, und zwar buchstäblich ab der Gründung, hatte diese Verbindung einerseits eine enorm wichtige Rolle im eben entstehenden Zionismus, andererseits bediente sie sich der klassischen Formensprache der studentischen Kultur, wie die oben abgelbildete Couleurkarte aus der Sammlung Seewann, Graz, klar dokumentiert. Kadimah Name bedeutet gleichzeitig „vorwärts“ wie „ostwärts“, und von Anfang an verstanden sich die Mitglieder als Förderer, ja, als Kämpfer für ein selbstbewusstes Judentum, das sich nicht aus Schwäche assimilieren, sondern wehrhaft seiner Anerkennung gewiß sein sollte.

A. V. Kadimah – Korporation des späten 19. Jahrhunderts

Klar bekannten sich die Mitglieder der Kadimah zum Satisfaktionsprinzip. Gefochten wurde oft auf Säbel – geschenkt wurde nichts. Auch diesbezüglich gehörten die Kadimaher zu einer aka-demischen Elite in Österreich, die aber jüdisch war. Und die sich, je mehr sie angegriffen wurde, immer deutlicher von der gesellschaftlichen Assimilation ab- und dem politischen Judentum zuwandte. Zur Annahme des akademischen Fechtens hat sich der Chronist der Wiener jüdischen Verbindungen, Fritz Roubicek (1913 – 1990), Alter Herr der Unitas und Auschwitz-Überleben-der, geäußert. Er sieht diesen Schritt durch die Herkunft der Mit-glieder begründet: „Osten waren Pogrome an der Tagesordnung und die Gründer der Kadimah wollten ein sogenanntes jüdisches Schicksal, das darin bestand, demütig Prügel zu empfangen und demütig darüber zu wehklagen, nicht akzeptieren. Sie wollten als ebenbürtige Gegner zurückschlagen und das taten sie auch.“

Das Phänomen, dem Harald Seewann so tiefschürfend nachspürt, erklärt auch Alexander Graf in seiner Promotionsschrift: „Vielmehr war es so, dass auch jüdische Akademiker versuchten, sich in die deutsche Nationalbewegung zu integrieren, indem sie nicht nur die deutsche Sprache annahmen, sondern auch ihre Bräuche änderten; in der deutschen Freiheitsbewegung im frühen 19. Jahr-hundert verband sich Religion mit Nationalismus, auch unter den Juden.“ Dass sich die Kadimaher damit exakt derselben Gesellungsform bedienten wie die übrigen, nicht-jüdischen, aus demselben, dem alten landsmannschaftlichen Geist entstandenen Verbindungen – das ist Tatsache und Faszinosum gleichermaßen.

Das „Mutterschiff des politischen Zionismus“

Die Rolle des Motors für den politischen Zionismus, die die A. V. Kadimah einnimmt, macht sie zu einem wichtigen Faktor im Verständnis der Epoche des militanten Antisemitismus in Europa, die im nationalsozialistischen Völkermord an den Juden endete. Diese Verbindung war, so führt Gregor Gatscher-Riedl aus, „das Mutterschiff des politischen Zionismus“. Die Kadimaher wandten sich zunächst gegen die Tendenz zur Assimilation, die immer weitere Verbreitung in den jüdischen Gemeinden fand. Die Entschlossenheit erklärt Graf in seiner 2014 in Graz erschienen Promotionschrift „Los von Rom und heim ins Reich“ damit, „dass die ersten Mitglieder Kadimahs noch Juden aus den östlichen Reichsteilen waren mit einer starken Bindung an ihre Religion und Kultur, was sie in einen Gegensatz zu den Wiener Juden stellte“.

Mitglieder der Wiener Studentenverbindungen A.V. Kadimah und J.A.V. Maccabaea beim jährlichen Gang zu Theodor Herzls Grab auf dem Döblinger Friedhof. Die Träger der dunkleren Mützen sind Kadimahner. Beide Abbildungen: Archiv Prof. Seewann, Graz

Nach außen hin bekämpften die Kadimaher den neu erstandenen Antisemitismus, der gleichwohl auch eine unheilvolle, bis ins Mittelalter zurückreichende Wurzel hat, aber seinen Ausgang in der neuen, durch die Ariosophie getriebenen Form wesentlich in Österreich nahm. Die Kadimah hielt nach Kräften und mit Erfolg dagegen, sie war somit das natürliche, akademisch geprägte Vorbild für viele Vereine der Zions-Liebhaber, die bald in ganz Europa entstanden.

Bei Seewann ist es nachzulesen, doch auch in den Quellen zu anderen Vereinen findet sich die Bestätigung: Es war die Wiener Kadimah, die erstmals überhaupt in organisierter Form nennenswerte nationaljüdische Bestrebungen erkennen ließ. Sie bereitete wesentlich den Boden für Theodor Herzl und den späteren Erfolg des politischen Zionismus. Denn sie war eine der damals noch raren gesellschaftlichen Gruppen, die Theodor Herzl darin bestärkten, einen eigenen Staat für die Juden zu fordern. Herzl, der sich zuvor von der deutschnationalen Burschenschaft Albia Wien abgewandt hatte, war einer der Ehrenburschen der Kadimah – allein dies ein höchst symbolischer Wechsel. Immer wieder scheint in Seewanns faszinierend reichhaltiger Dokumentation diese für die Geschichte des 20. Jahrhunderts so wichtige Personalie auf.

Als wären es gutsortierte Originalakten

Für den Studentenhistoriker mindestens so interessant ist der detailreiche Blick in das Innenleben der Kamidah. Professor Seewann hat eine derartige Fülle an Material zusammengetragen, dass der Leser das Gefühl hat, im Archiv der Kamidah zu sitzen und gut sortierte Akten zu sichten. Das Leben und Wirken dieser so bemerkenswerten wie bedeutenden Verbindung ist damit auf Dauer konserviert worden. Es ist Teil des kollektiven Erinnerns an diese Epoche geworden.

Professor Seewann ist der Begründer der Schriftenreihe „Historia Academica Juadiaca“, deren Abschlussband die Dokumentation der A. V. Kadimah darstellt. Nach einem ausgezeichnet aufge-schlüsselten Inhaltsverzeichnis findet der Leser hier umfassende Literaturangaben sowie Grundlagen zur Geschichte der Kadimah, dazu Stammdaten und Bundeslied. Wie aufschlussreich schon scheinbar banale Quellen sein können, zeigen die zusammengetragenen und vereint dargestellten Kopfzeilen des Briefpapiers. Eine aktive und akzentuierte Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist, dem Anspruch als geistige Elite, gesellschaftlichem Widerspruch und künstlerischer Avantgarde – all dies deutet sich in der graphischen Gestaltung an. Und so geh es munter weiter durch die Geschichte der Kadimah, beginnend mit den Statuten aus dem Jahre 1883. Die Zahl der Fundstücke ist dabei höchst beeindruckend.

Hervorzuheben sind Schriftstücke zum 25. Stiftungsfest, bei dem das Tragen von Farben beschlossen wurde, zum Verhältnis gegenüber den Burschenschaften sowie zum „Waidhofener Prinzip“, aufgrund dessen sich die nicht-jüdische Mehrheit der Verbindungsstudenten weigerte, den jüdischen Korporierten die Fähigkeit zu Satisfaktion zuzugestehen. Gerade letzteres Prinzip erscheint heutzutage wie eine Vorwegnahme der Entrechtung der jüdischen Mitbürger, die 1933 in Deutschland umgesetzt wurde und die auch vor Österreich nicht haltmachen sollte. Dies wirkt ein geistiger Versuchslauf in vitro für den kommenden Ungeist des Nationalsozialismus.

Kein Unterschied in der Attitude

Augenscheinlich, also von den Dokumenten her, die zum Dialog zwischen dem A. V. Kadimah und einigen anderen, nicht-jüdischen Verbindungen bei Harald Seewann dokumentiert sind, bestand zwischen den religiösen Lager erbitterte Feindschaft. Und doch, ja, vielleicht gerade deswegen drängt sich beim Studium der Dokumente der Eindruck auf, als habe es wenig Unterschiede im Habitus und in der Attitude zwischen den zionistisch ausge-richteten und deutschnationalen Verbindungen gegeben – und die Hochschulstadt Wien hatte hier keine Sonderrolle, auch andernorts war die Kongruenz zu bemerken. Waren demnach in Österreich wie im Deutschen Reich die zionistischen Verbindungen nicht ebenso deutschnationale Verbindungen wie alle anderen? Es bedarf einer solch umfangreichen und tiefschürfenden Dokumen-tation wie der von Harald Seewann, um solche weitreichenden Schlüsse wagen zu können.

Die fünf Jahrzehnte, in denen die A. V. Kamidah als aktive Verbindung Bestand hatte, sind lückenlos in Seewanns Opus Magnum dokumentiert. In den 1920er Jahren verschärfte sich dann der Kulturkampf in Wien allmählich – im aufkommenden National-sozialismus änderte sich das Klima nochmals radikal. Diese Veränderung, die einer zuerst schleichenden und allmählich immer schneller um sich greifenden Vergiftung gleichkam, hat der Autor im Jahre 2018 in einer Dokumentation von Presseartikeln aus allen politischen und weltanschaulichen Lagern zur Universität Wien und zu den dort immatrikulierten Korporationen niedergelegt. Eine sinnvolle und nochmals weiterführende Ergänzung, mit der abermals eine wichtige Lücke geschlossen, ein wichtiger studen-tenhistorischer Aspekt ergänzt werden konnte. Die verhängnisvolle religiöse Verblendung einerseits und die zunehmende Aufkündigung des kulturellen Konsens andererseits entzweiten die Brüder im korporierten Geist.

Rund um die die 50-Jahrfeier der Kadimah im April 1933 stand nach innen hin der „Kampf gegen das Assimilantentum“ im Mittelpunkt, nach außen erfolgte 1935 schließlich als letzter Versuch, der gesellschaftlichen Vernichtung zu entgehen, die Gründung des Bundes Zionistischer Verbindungen. Der Verlauf der Geschichte ist bekannt, wird in diesen beiden Bänden aber durch die Ablichtung der Originaldokumente sehr lebendig. Mit der in der Dokumentation zum A. V. Kadimah abgedruckten, letz-ten Meldung der Charierten an Wiener Polizeibehörden vom 26. Februar 1938 und die behördlichen Aktenstücke zur Auflösung der A. V. Kadimah im August dieses Jahres schließt das Kapitel zum Aktivenbetrieb der ältesten jüdischen Studentenverbindung überhaupt.

Die wahre Treue der Kadimaher zur studentischen Kultur

Doch das war nicht das Ende. Der A. V. Kamidah lebte in den Überlebenden weiter, in seinen Festen, in der Erinnerung. Harald Seewann hat auch für die Zeit nach dem Verbot und den Opfern der Shoah akribisch weitergesammelt. Die erhaltenen Originale hat er häufig bei hochbetagten Kadimahern gesehen, in letzter Minute sozusagen hat er sich alles sagen und zeigen lassen. Weit anrührender als das wirklich stolze und ansehnliche Burschentum der Kadimah ab 1882 in Wien war die Treue, die die Kadimaher ihrem Bund auch nach Verbot und nach der Shoah hielten. In New York ebenso wie in Haifa entstanden die Altherrenbünde der A. V. Kadimah neu.

Tief ins Nachdenken kommen muss jeder, der die Gedenkstätten in Dachau oder Auschwitz besucht hat, beim Anblick der Kommersgesellschaften, die im Jahre 1958 in Band und Mütze in New York wie in Haifa das 75. Stiftungsfest ihrer Kadimah feierten. Was für einen unmenschlichen und auch unlogischen Bruch der Ungeist des Antisemitismus für Europa bedeutete – kaum exemplarischer als mit diesen Bildern ließe es sich illustrieren. Nicht fehlen darf bei Seewann auch ein Bericht über die Benennung einer Straße in Ost-Jerusalem nach der Kadimah, und zwar im Jahre 1986, wo zur feierlichen Enthüllung des ersten Straßenschildes sogar der damailige Bürgermeister Teddy Kollek anwesend war. Was für einen Kosmos erschließt dieses Buch!

Ein gutes Abkürzungsverzeichnis, zahlreiche fundierte Anmerkun-gen sowie ein nochmals weiterführender, informativer Nachtrag schließen den Reigen ab. Israel Schwierz formuliert auf der Web-seite Hagalil, dies sei eine „mit viel Leidenschaft, ja mit Herzblut konzipierte und herausgegebene Dokumentation“. Schwierz fasst dann zusammen: „Mit der Konzeption und der Herausgabe der Dokumentation über die AV Kadimah ist es dessen Autor in der Tat gelungen, der ältesten jüdisch-nationalen Studentenverbindung der Welt ein ewiges Denkmal zu schaffen. Dafür gebührt ihm der tiefste Dank und die größte Anerkennung aller, denen der ehrliche Umgang mit den deutschen Studentenverbindungen – und hier ganz besonders mit den jüdischen – ein Herzensanliegen ist.“

Harald Seewann: A.V. Kadimah, Fundstücke zur Chronik der ältesten jüdisch-nationalen Studentenverbindung, Wien 1882 – 1938; Dokumentation, Graz 2017, broschiert DIN A 4, 488 Seiten, 36.- Euro zzgl. Porto

Harald Seewann: Bewegte Jahre, Studentische Auseinanderset-zungen an der Wiener Universität in der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1925; Dokumentation, Graz 2018, broschiert DIN A 4, 261 Seiten, mit 16 Abb., 24,- Euro zzgl. Porto

Bestellanschrift: Prof. Harald Seewann, Resselgasse 26, A-8020 Graz, Email: c.h.seewann@aon.at