Justus Liebig – der erste wirklich berühmte Korporierte?

Wer es auf gleich mehrere Briefmarken schafft, ohne Staatsoberhaupt zu sein, muss ein verdienter Mitbürger sein. Wenn er dazu auch noch einer studentischen Korporation angehört, dient er für die dort nachfolgenden Generationen als Vorbild. Beide Kriterien erfüllt der Chemiker Justus Liebig. Er war ein hochverdienter Chemiker, der wie kein zweiter für den Beginn der modernen Chemie steht. Aus seiner wissenschaftlichen Schule sind bis heute 104 Nobelpreisträger hervorgegangen. Eine Zahl, die mit Sicherheit kein anderer Wissenschaftler erreicht hat und auch nicht erreichen wird.[1]

Besonders edel gelungen: Briefmarke der Deutschen Bundespost zu Ehren Justus Liebigs 150. Geburtstag, erschienen 1953.

Ob dieser Wissenschaftler ein Vorbild für heutige Korporierte ist, das mag jeder für sich selbst entscheiden. Gleich zwei Gelegenheiten gibt es indes, bei denen studentisches Brauchtum in das Schicksal des jugendlichen Justus sicher eingegriffen hat. Darauf soll hier eingegangen werden, bevor wir sein Lebenswerk näher vorstellen.

Justus Liebig wurde am 12. Mai 1803 in Darmstadt als Sohn eines Farbenhändlers und Drogisten geboren. Die Werkstatt des Vaters war ein wichtiger „Spielplatz“. Zwar lernte er Lesen und Schreiben in der Schule, aber Mischen, Riechen und Beobachten lernte er in Vaters Werkstatt. Kaum dass er lesen und schreiben konnte, sandte ihn der Vater regelmäßig in die benachbarte Großherzogliche Bibliothek, damit er Rezepte abschriebe. Justus kannte sich bald in der Bibliothek aus und verschlang alles, was mit Chemie zu tun hatte. Wie er später bekannte, hat er dort zwar alles gelesen und aufgesogen, aber keineswegs alles verstanden.[2]

Ein Besuch auf dem Jahrmarkt war schließlich von entscheidendem Einfluss für seinen weiteren Lebenslauf. Weil ein Quacksalber dem Teenager Justus nicht verraten wollte, wie man Knallerbsen herstellt, beobachtete Liebig diesen heimlich bei der Herstellung des dafür notwendigen Knallsilbers. Was er sah und roch, genügte ihm, um das Rezept zu entschlüsseln. An schulischen Inhalten war er dagegen weit weniger interessiert. Die Versetzung in die Sekunda wurde ihm zweimal verwehrt, so dass ihm der Vater eine Lehrstelle bei einem befreundeten Apotheker in Heppenheim vermittelte. Bereits nach zehn Monaten wurde Justus auch dort herausgeworfen, weil er in seiner Wohnstube unter dem Dach der Apotheke mit dem Knallsilber „experimentierte“.

Zu seinem Glück, kann man rückblickend sagen, denn in der Folge verlor er zwar die Lehrstelle, durfte sich aber bei einem Kunden seines Vaters, bei Prof. Karl G. W. Kastner an der erst ein Jahr zuvor gegründeten Universität Bonn für das Fach Chemie einschreiben. Prof. Kastner erkannte sehr schnell das Talent des 17-jährigen und bot Liebig kein Jahr später an, mit ihm nach Erlangen zu wechseln. Bereits in Bonn soll Liebig Gast einer Burschenschaft gewesen sein. Sicher wissen wir hingegen aus Briefen an seine Eltern, dass er in Erlangen bereits wenige Wochen nach seiner Immatrikulation am 12. Mai 1821 Gründungsmitglied eines Korps Rhenania wurde und dort das Amt des Kassierers übernahm.[3]

Es war eine Zeit, in der es nicht nur in Erlangen zwischen den zumeist adeligen Studenten und der Bevölkerung regelmäßig zu Reibereien kam. So war Justus Liebig in der Neujahrsnacht mit seinen Corpsbrüdern in Streitereien mit bürgerlichen „Knoten“ geraten und erhielt dafür drei Tage Karzer. Schließlich kam es in der letzten Februarwoche des Jahres 1822 zu dem berühmten Auszug der 400 Studenten in die alte Universitätsstadt Altdorf.[4] Die Polizei nutzte die Abwesenheit Liebigs zur Durchsuchung seiner Wohnung und stellte Couleurband und vor allem wohl ein Conventsprotokoll sicher. Damit war für die Behörden ein Verstoß gegen die Karlsbader Beschlüsse erwiesen. Liebig wurde verhört, aber nicht verhaftet. Er zog es allerdings daraufhin vor, Bayern nach nicht einmal einem Jahr wieder zu verlassen. Er ging zurück ins Ausland, nämlich in sein Elternhaus, und entzog sich somit der Strafverfolgung, der sich seine Korpsbrüder allerdings stellen mussten.

Sein Mentor, Prof. Kastner, hatte bereits vorher an den Großherzog in Darmstadt ein Empfehlungsschreiben für ein Stipendium zur Fortsetzung seiner Studien in dem damaligen Mekka der Chemie, nämlich in Paris, gesandt. Dieses Stipendium wurde Liebig für sechs Monate gewährt. Er nutzte diese Chance mit hohem Fleiß. Als Liebig seinen Förderer Kastner um ein Zeugnis für die Verlängerung des Stipendiums bat, bekam er neben dem gewünschten Zeugnis auch eine Promotionsurkunde. Kastner hatte nämlich durchgesetzt, dass er in absentia, also ohne Prüfung, promoviert wurde. Seine Doktorarbeit ist bis heute unbekannt.

Auch in Paris galt sein Interesse dem Knallsilber. Sein Lehrer Prof. Gay-Lussac war von den Ergebnissen so beeindruckt, dass er Liebigs Ergebnisse nach nur etwas mehr als einem Jahr am 28. Juli 1823 vor der Französischen Akademie vortrug. Unter den Zuhörern war auch Alexander von Humboldt. Der war so begeistert, dass er dem Darmstädter Großherzog Liebig als Professor in dessen Landesuniversität Gießen vorschlug. So wurde Liebig wieder kaum ein Jahr später mit 21 Jahren ohne Befragung der Gießener Universität zum Professor ebendort ernannt. Die Besoldung war gering, die Ausstattung war marginal.

Ist dies die alte Wachstube in Gießen, in der Liebig sein erstes Labor hatte?

Vor der Toren der Stadt war das ehemalige Wachgebäude einer Kaserne gelegen, das stellte man Liebig als Wohn- und Arbeitsraum zur Verfügung. Freigeworden war dieses Gebäude, weil der Großherzog seine Garnison von Gießen nach Mainz verlegte, um dem permanenten Streit zwischen Studenten und Soldaten zu vermeiden. Damit beflügelten die rauflustigen Studenten erneut – wenn auch indirekt – Liebigs Karriere.

Liebig richtete in der alten Wachstube ein Labor ein, wie er es in Paris kennengelernt hatte. Die Aufteilung des Raums zwang Liebig dabei geradezu zur Erfindung des chemischen Abzugs, ohne den heutzutage chemisches Arbeiten undenkbar ist. Er blieb in Gießen 28 Jahre lang und nutzte die diversen Angebote aus anderen Universitäten mehrmals um sein Labor nach seinen Vorstellungen zu erweitern. Das im Original erhaltene Labor wurde für alle chemischen Labore der Welt zum Vorbild.[5] Nach dem Muster des Hörsaals wurden fortan alle chemischen Hörsäle der Welt gebaut. Ja, sogar die Einführung einer Vorlesung mit Experimenten geht auf ihn zurück.

Bei dem Durchlaufen von vielen ungewöhnlichen Stationen hatte der 21jährige Jungprofessor zahlreiche Erfahrungen gesammelt, die er konsequent in seine Forschung und seinen Unterricht einbrachte. So nahm er zusätzlich auch Studenten ohne Abitur auf. Dieses tat er zuerst nur um sein bescheidenes Gehalt aufzubessern, aber daraus wurde die allgemeine Einführung von Grundlagen auch in das normale Studium. Seine Studenten, die aus der ganzen Welt kamen, wurden bei ihrer Rückkehr in die Heimat selbst schnell zu Professoren und sorgten so für die Verbreitung von Liebigs Konzept.

Nebenbei schrieb Liebig für die Augsburger Allgemeine Zeitung allgemein verständliche Aufsätze, die als Chemische Briefe auch ein kommerzieller Erfolg wurden. In der Forschung wandte er sich zunehmend Problemen aus Ernährung und Medizin zu. Immer noch beeindruckt von der Hungerkatastrophe des Jahres 1816 erfand er schließlich den Kunstdünger. Um das Leben der Tochter eines Freundes zu retten, erfand er den Fleischextrakt. Obwohl sich seine Erfindungen kaum aufzählen lassen, hat er nur mit der Erfindung des Kunstdüngers und des Fleischextrakts Geld verdient. Mit Backpulver und Muttermilchersatz wurden am Ende andere wohlhabend, ja schwerreich, zum Beispiel die Herren Nestlé und Dr. Oetker. Liebig ging es stets um die Lösung der Probleme, nicht um das große Geld. Sein größter rein wissenschaftlicher Erfolg war die Erfindung des sogenannten Fünfkugelapparats, mit dem ihm eine schnelle und sichere Methode zur Elementaranalyse gelang.

Bemerkenswert: Liebig wird hier in Couleur dargestellt! Diese Briefamrke brachte die Deutsche Bundespost im Jahre 2003 heraus.

Auch heute noch besteht das Wappen Amerikanischen Gesellschaft für Chemie, ACS – der weltweit größten Chemischen Gesellschaft – zur Hälfte aus dem Abbild des Fünfkugelapparats. Liebig selbst wurde mit seinerArbeit nichts weniger als der Begründer des eigenständigen Fachgebiets Organische Chemie.

Nach 28 Jahren Arbeit mit Studenten, nahm er einen Ruf an die Universität München an. Er wurde weitgehend von Lehrverpflichtungen freigestellt und half zuvorderst dabei, Bayern zu einem Industriestaat zu machen. Kaum jemand weiß, dass die industrielle Käseproduktion in Kempten von ihm angeregt wurde. Genauso weiß kaum jemand, dass die Chemiefirma Merck in Darmstadt auf seine Anregung hin entstanden ist. Möglicherweise angeregt durch die Jahrmarktsversuche seiner Jugend führte Liebig in München öffentliche chemische Vorführungen ein, die sich bis ins Königshaus hoher Beliebtheit erfreuten. Damit hat er sich ganz nebenbei um die allgemeine Anerkennung der Naturwissenschaften große Verdienste erworben.

Bleibt die Frage, ob er tatsächlich der erste Korporationsstudent mit weltweitem Ruhm geworden ist. Man ist geneigt, mit Ja zu antworten, weil in seiner Studentenzeit die Organisationsstrukturen der Korporationsverbände erst noch entwickelt werden mussten, und weil sich der Fächerkanon der Universitäten zumeist auf die Ausbildung der Landesbeamten beschränkte. International bedeutende Felder waren erst im Entstehen. Liebig hat als Autodidakt, als Student und als Forscher seine Chance genutzt. Beliebt war er zudem, wie uns der Liebig-Forscher Emil Heuser in Erinnerung gerufen hat. Im Lahrer Kommersbuch, 55. bis 58. Auflage, steht unter Nr. 737 das heute wohl vergessene Lied „Vom Stoffwechsel“ .[6] Vielleicht hat Liebig nicht persönlich nicht an Kneipen teilgenommen, aber dass er dort besungen wurde, das wissen wir dank Emil Heuser.

Für ihn wohl besonders wichtig war die Weitergabe seines Talents. So erhielt sein Enkel Max Delbrück 1969 den Nobelpreis für Medizin.[7] Seine Großnichte Elly Heuss-Knapp heiratete den späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss,[8] und der Ehemann seiner Enkelin Amalie Thiersch war Adolf von Harnack. Besonders großen Anteil an der Wahrung seines weltweiten Rufes hatten Liebigs Schüler, allen voran August von Kekulé und August Wilhelm Hoffmann, die gegensätzlicher kaum sein konnten und dennoch die tragenden Äste für Liebigs wissenschaftlichen Stammbaum bildeten, aus dem bis heute 104 Nobelpreisträger hervorgingen.[9]

Manfred Kröger[10]


[1] Diesen Beitrag haben wir auf Anregung des Autors aus dem Studentenkurier übernommen.

[2] William H. Brock, Justus von Liebig – Eine Biographie des großen Naturwissenschaftlers und Europäers, Berlin 1999; Ernst E. Schwenk, Sternstunden der frühen Chemie. Verlag C.H.Beck, 2. Aufl., 2000, S. 233 – 256.

[3] Ernst G. Deuerlein, Justus Liebig als Corpsbursch …, in: Einst und Jetzt 2, 1957, S. 82 – 90, und 112 ff.

[4] Ebd.

[5] Brock, Justus von Liebig; Homepage Liebig-Museum, https://www.liebig-museum.de/img/diashow.php?verzeichnis=mseum&woher=/index.php.

[6] Deutsche Sängerschaft 123, 10 – 11, 2018.

[7] Über dessen Schwager Klaus Bonhoeffer gehörte auch der Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer zur angeheirateten Verwandtschaft.

[8] Theodor Heuss, Justus von Liebig – Vom Genius der Forschung; Hamburg 1942.

[9] Karl Aloys Schenzinger, Anilin, Kapitel Benzol, S. IX – XIV.

[10] Prof. Dr. Manfred Kröger, geboren 1946, hat in Hamburg und Göttingen Chemie und Biochemie studiert. Er spezialisierte sich auf Molekularbiologie und war bis zu seiner Pensionierung Akademischer Oberrat und Professor für Mikrobiologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Er sammelt seit seinem achten Lebensjahr Briefmarken und hat diese regelmäßig in seine Lehrveranstaltungen eingebaut. Seit mehr als zwanzig Jahren bietet er Führungen im historischen Liebig-Museum an. Er ist seit 1966 Mehrbändermann in der Deutschen Sängerschaft, unter anderen Holsatia Hamburg.

Schreibe einen Kommentar