Der gute Ruf, den deutsche Theologie traditionell in weiten Teilen der Welt bis heute genießt, dürfte 2005 ein wichtiger Grund für die Wahl Joseph Ratzingers zum neuen Papst gewesen sein. Dieser hatte vor seiner Ernennung zum Erzbischof von München und Freising an fünf Hochschulen gelehrt: in Freising, Münster, Bonn, Tübingen und Regensburg. Der ehemalige Präfekt der römischen Glaubenskongregation galt als scharfsinniger Denker, dessen theologische Qualitäten selbst Kritikern Respekt abverlangen. Als solcher hat Ratzinger stets die Zusammengehörigkeit von Glaube und Vernunft verteidigt.
Vieles hat sich in der deutschen Theologie verändert. Die Hochschulreformen sind das eine, die immer schneller schwindende kirchliche Bindung des Landes das andere. Die forcierte Massenakademisierung im Gewand berufsqualifizierender Bachelor- und Masterstudiengänge hat weder die Qualität des öffentlichen Diskurs gefördert noch die Krisenfestigkeit unseres Landes erhöht. Allerorten fehlen handwerklich qualifizierte Fachkräfte.
Papst Benedikt XVI. trug die Ehrenbänder der KDStV Rupertia zu Regensburg, der KBStV Rhaetia München sowie der KAV Capitolina Rom. Aktiv war er zu Studienzeiten beim KStV Lichtenstein-Hohenheim zu Freising, heute verbandsfrei; viele Jahre lang trug er auch das Band der Alcimonia Eichstätt im CV.
Der Bolognaprozess, der das Erscheinungsbild und das Selbstverständnis der deutschen Hochschule einschneidend verändert hat, ging auch an der Theologie keineswegs spurlos vorüber. Verminderte Sprachanforderungen und steigende Erwartungen an die Berufsqualifizierung universitärer Studiengänge hat wissenschaftliche Standards abgesenkt. Nichtkanonische Studiengänge, etwa zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft, interdisziplinäre Format wie interreligiöse Studien sind hinzugekommen. Immer wieder wird über die Einführung theologischer Kurzstudiengänge diskutiert.
Die theologischen Fakultäten stehen unter ökonomischem Rechtfertigungszwang, in Passau und Bamberg wurden diese gerade unter der Amtszeit Benedikts XVI. aufgelöst. Immer wieder wird von Bildungspolitikern, Rechnungshöfen oder Wissenschaftsfunktionären die kritische Frage gestellt, ob der Nutzen, den die Theologie für die säkularisierte Gesellschaft erbringt, und die dramatisch gesunkene Zahl an Priesteramtskandidaten den gegenwärtigen Stand an Ausstattung und Personal überhaupt noch rechtfertigt oder ob theologische Lehrstühle nicht besser für Islamkunde und Religionswissenschaft umgewidmet werden sollten.
Innerkirchlich gefragt sind eher niedrigschwellige und eingängige Seelsorgsangebote. Auf theologisches Denken, das auch den sperrigen Fragen des Lebens nachgeht, meint man vielfach leichthin verzichten zu können. Auf Dauer läuft die Kirche Gefahr, dadurch ihre Seele zu verlieren sowie an Orientierungskraft und geistiger Ausstrahlung einzubüßen. Hinter der gegenwärtigen Krise des Glaubens in den westlichen Ländern steckt auch ein Verlust an theologischer Tiefe. Die Effizienz pastoraler Arbeit lässt sich nicht beliebig steigern, indem Gemeinden vergrößert und Aufgaben rationalisiert werden.
Ohne regelmäßige theologische Fortbildung, ohne die Zeit zu gründlicher Lektüre oder ohne Muße für Kultur und Spiritualität verflacht das theologische Denken und Handeln. Wenn kirchliche Mitarbeiter nicht mehr die Zeit finden, ein anspruchsvolles Geistesleben zu pflegen und ihren Verstand zu nähren, leiden darunter auf Dauer ihre Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Ein kurzatmiger Aktionismus, belanglose Predigten oder triviale Seelsorgsangebote statt ernsthafter Sinnsuche, überzeugender Verkündigung und geistlicher Anregung können leicht die Folge sein.
Darüber hinaus verliert eine Gesellschaft, die ihre geistigen Traditionen verachtet und auf theologische Forschung meint verzichten zu können an Humanität, Kreativität und Vitalität. Die Geisteswissenschaften sind kein überflüssiges Glasperlenspiel, sondern unverzichtbar für ein tieferes Verständnis der Gegenwart und eine nachhaltige, über einen tagesaktuellen Pragmatismus hinausreichende Bewältigung der Zukunft.
Die Kirche, aber auch die Gesellschaft insgesamt können auf theologische Anstrengung nicht verzichten, ohne auf Dauer ihre Identität, ihre geistige Spannkraft und ihre Zukunftsfähigkeit zu verlieren. Ein Verschanzen hinter Konkordaten oder der bloße Verweis auf die lange Tradition deutscher Universitätstheologie werden nicht mehr lange ausreichen, deren Bestand zu sichern. Der inner- und außerkirchliche Wert der Theologie muss vielmehr offensiv verteidigt werden.
Zwei Theologen auf dem Papstthron
Vor diesem Hintergrund war es ein klares Signal, als 2005 zum zweiten Mal ein renommierter Theologe zum Papst gewählt. Johannes Paul II. war als Wertethiker philosophisch ausgewiesen und hat mit seiner Theologie des Leibes die Moraltheologie auch im Papstamt entscheidend geprägt. Benedikt XVI. war ein systematischer Theologe, der theologischen Fragen nicht nur mit analytischer Tiefe, sondern auch literarischer Brillanz nachzugehen verstand. Seine „Einführung in das Christentum“ ist bis heute unübertroffen. Seine Jesustrilogie wurde auch außerhalb der Theologie von vielen mit theologischer Erkenntnnis und geistlichem Gewinn gleichermaßen gelesen. Seinen Aufstieg verdankte der junge Theologe seiner Abkehr vom neoscholastischen Stil. Er stellte kritische Fragen, er diskutierte, er fragte nach den zentralen Inhalten christlicher Existenz – mit Schärfe und Scharfsinn. Dies fiel auch dem Kölner Kardinal Frings auf, der den jungen Theologen als Berater zum Zweiten Vatikanum mitnahm.
Und noch einmal fiel der Theologe Ratzinger in der Kirchenhierarchie auf: Alles Widerstreben nutzte am Ende nichts. Johannes Paul II., der Charismatiker, holte den systematisch scharfen Denker an seine Seite, weg von München, hin nach Rom. Ratzinger und Johnnes Paul II. ergänzten sich kongenial. Sowohl Johannes Paul II. als auch Benedikt XVI. blieben auch im Papstamt auf ihre Weise ihrer theologischen Existenz treu. Beide Pontifikate unterstreichen auf ihre je eigene Weise den Wert theologischer Arbeit für Leitung und Wesen der Kirche. Schon einmal war ein Papst zurückgetreten: Coelestin V. Auf den Eremiten und Ordensgründer folgte mit Bonifaz VIII. ein Politiker nach. Wer Parallelen zum Übergang von Benedikt zu Franziskus festzustellen vermag, liegt vielleicht nicht ganz falsch.
Benedikt XVI. war skeptisch gegenüber Revolutionen. Immer stärker betonte er, wie notwendig eine Hermeneutik der Kontinuität und behutsamen Weiterentwicklung ihrer Lehre für die Kirche ist. Vielleicht war erst dies die Voraussetzung, die gerade für ihn den revolutionären Schritt eines Rücktritts vom Papstamt ermöglichte. Selbst treue Anhänger befürchten, dass der nun verstorbene Papst emeritus damit einer Funktionalisierung des Amtes Vorschub leistet. Es bleibt abzuwarten, ob sein Beispiel angesichts steigender Lebenserwartung Schule machen wird.
Geistliches Testament
Benedikt XVI. hatte aber in anderer Hinsicht ein doppeltes Gesicht: Sein theologischer Scharfsinn paarte sich mit einem geradezu kindlichen Vertrauen in Gott und seine Kirche. Bis zum Schluss bewahrte er sich die Liebe zu seiner bayerischen Heimat, die Kindheit im Kreis der Familie, das kirchliche Brauchtum im Voralpenland waren Wurzeln, aus denen sein Glaube lebenslang lebte.
Die Schlichtheit eines in katholischen Traditionen beheimateten Glaubens, der ein Leben lang Heimat und Geborgenheit zu geben vermochte, spricht auch aus dem geistlichen Testament Benedikts XVI., das der Vatikan am Silvesterabend veröffentlichte: „Und danken möchte ich dem Herrn für die schöne Heimat im bayerischen Voralpenland, in der ich immer wieder den Glanz des Schöpfers selbst durchscheinen sehen durfte. Den Menschen meiner Heimat danke ich dafür, daß ich bei ihnen immer wieder die Schönheit des Glaubens erleben durfte.“
Lange in Rom tätig, verfolgte Ratzinger, später dann Benedikt XVI. die Vorgänge in der deutschen Kirche mit wachem Geist und großem Interesse. Schlicht, aber eindrücklich die Worte in seinem geistlichen Vermächtnis: „Ich bete darum, daß unser Land ein Land des Glaubens bleibt und bitte Euch, liebe Landsleute: Laßt euch nicht vom Glauben abbringen.“
Benedikts Kritiker konnten es nicht verstehen, und doch: Er vermochte Berufungen zu wecken und junge Menschen für den Glauben zu begeistern, wie die „Generation Benedikt“ zeigte. Der Wind ist für die Kirche und den Glauben hierzulande mittlerweile deutlich rauer geworden. Wenn die Kirche die Herausforderungen bestehen will, wird sie theologische Anstrengung benötigen. Und weniger Funktionärsveranstaltungen, wie der Synodale Weg eine solche war. Ecclesia semper reformanda. Das bleibt richtig. Doch nachhaltige Reformen setzen theologisches Verstehen, theologisches Nachdenken und theologische Aufrichtigkeit voraus, nicht hektischen Aktivitas, Anpassung an modische Trends oder die billige Suche nach Aufmerksamkeit.
Papst em. Benedikt XVI., am 16. April 1927 geboren, starb in den Morgenstunden des 31. Dezember 2022 im Alter von fünfundneunzig Jahren. Der emeritierte Bamberger Erzbischof, Ludwig Schick, schreibt am Ende seines Nachrufes auf ihn: „Die Zukunft wird seine ganze Größe erweisen.“ Diese zeigt sich, so viel lässt sich heute schon sagen, nicht zuletzt im theologischen Werk, das dieser Papst hinterlassen hat. Wir sollten es in Ehren halten, nicht im musealen Gedenken, sondern im lebendigen Weiterdenken. Der deutschen Kirche würde es mehr als guttun.
Axel Bernd Kunze (ALE, RhG, Ale)
Ein Kommentar zu “In memoriam Papst Benedikt XVI. †”