4. November2023. Eine höchst idyllische, dörfliche Fachwerkstraße, typisch rheinisch. Kleine Häuschen, mehrgeschossig und windschief, steile Dächer. Perfekte Idylle im durch keinen Krieg zerstörten Bonner Stadtteil Muffendorf. Im frühen herbstlichen Dunkel streben Menschen gruppenweise einem versteckten Hintereingang eines Gasthauses zu. Sie tragen Couleur, und die ersten, die sich in Gruppen sammeln, sind unverkennbar Chargierte.
Die Szenerie ist vertraut, sie könnte sich auch in Marburg, Wernigerode, Coburg, Eisenach abgespielt haben, 1893, 1913 oder sogar noch 1932. Das Ziel aller ist eine Fachwerkhalle, äußerlich bescheiden zwischen Winzerhöfen eingereiht. Den Chargierten folgen bald immer mehr Menschen, die meisten ebenfalls in Couleur. Was mochte sie, weit über 200 an der Zahl, die nicht recht in die dörfliche Enge passten, wohl hergeführt haben?
Nun, an diesem 4. November feierten viele Bonner Korporationen gemeinsam einen feierlichen Kommers in der „Kleinen Beethovenhalle“ in Bonn-Muffendorf. Anlass war die 175. Wiederkehr des Jahrestages der Frankfurter Nationalversammlung, des Paulskirchenparlaments. Gleichzeitig gab es mit Bonner verbundenes Jubiläum zu bedenken: Vor 75 Jahren trat in Bonner Museum Koenig Parlamentarische Rat zusammen, der das Grundgesetz der Bundesrepublik erarbeitete. Neun der 46 bestehenden Korporationen in Bonn gaben als Chargierte auf der Bühne der Veranstaltung einen festlichen Rahmen.
Nathanael Liminski, Minister des Landes Nordrhein-Westfalen für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien sowie Chef der Staatskanzlei, hatte ebenfalls den Weg nach Muffendorf gefunden. Er war der Festredner des Abends. Die Jahre vor 1848 seien durchaus mit der heutigen Zeit vergleichbar, so der Minister: soziale Probleme, wesentliche technologische Entwicklungen und Abstiegs- und Verlustängste bei einer großen Zahl von Menschen. Die Lehre aus 1848 sei aber, dass die Angst ein schlechter Ratgeber sei für die Demokratie. Als Gegenbeispiel pries er Mut und Weitblick der Väter und Mütter des Grundgesetzes, deren Wirken im Parlamentarischen Rat ab 1948, also vor nun 75 Jahren, er zugleich lobte. Den Bogen zur Paulskirche schlagend fügte er an: „1948 wurde nicht mit nichts angefangen, und das ist das Verdienst von 1848!“
Die heutigen Vertreter der extremen Ränder des politischen Spektrums nannte Liminski „Bewirtschafter der Angst“ – bemerkenswert dieser Topos! Diese Angst sei lähmend, führe zu Stillstand und verursache damit immensen Schaden. Nachhaltiger Fortschritt, vor allem in der Migrations- und in der Klimapolitik sei dagegen nur aus der moderaten Mitte möglich. Hierzu seien keine Maximalforderungen, sondern wirkliche Kompromisse nötig, und die Vertreter der moderaten Mitte seien allein dazu befähigt. Radikal-dogmatische Standpunkte seien nicht nachhaltig – der Seitenhieb auf die Grünen war fein umschrieben, aber klar erkennbar.
Der Parlamentarismus, so Liminski, müsse seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen, denn: „Auch Demokratien können sterben! Und sie klingeln nicht, wenn sie gehen.“ Der Schutz der Demokratie sei nicht nur Aufgabe der Politik, sondern auch der Zivilgesellschaft – also aller Bürger. Auch auf den Nahostkrieg 2023 kam er zu sprechen. Mit Blick auf zahlreiche Demonstrationen kritisierte er ein Ungleichgewicht zulasten der pro-israelischen Stimmen. Dass heute auf deutschen Straßen offen zur Vernichtung von Juden aufgerufen werde, prangerte er sehr deutlich als „Schande“ an.
Zuvor hatten Bürgermeisterin Dr. Ursula Sautter als Vertreterin der Stadt Bonn und für den Rektor und die Universität der Dekan der Staatswissenschaftlichen Fakultät, Prof. Dr. Jürgen von Hagen, in ihren Grußworten ihrer Freude über diesen Kommers Ausdruck verliehen. Sautter rief mit Blick auf 1848 und heute zum Schutz der Demokratie auf. Von Hagen erinnerte an Ernst Moritz Arndt, Dahlmann und Carl Schurz. Mit Hinweis auf die aktuelle Debatte um Arndt mahnte er, die Vergangenheit nicht durch die Brille heutiger Moralvorstellungen zu betrachten, sondern den jeweiligen Kontext zu bedenken. Es gelte Traditionen zu pflegen und sich mit der eigenen Geschichte kritisch auseinanderzusetzen. Die Korporationen sollten zusammen mit der Universität die Demokratie verteidigen.
Die Kommunalpolitik wurde durch David Lutz (CDU), Peter Kox (SPD) und Aaron Eßelborn (FDP) vertreten. Natürlich hörten gerade sie aufmerksam hin, als Kommersleiter David Dekorsi, Mitglied zweier CV-Verbindungen, in seiner Ansprache auf eine spezielle Parallele zu den Jahren rund um 1848 verwies – die immens große Unzufriedenheit mit der Politik in großen Teilen der Bevölkerung. Genauso wie damals gehe es auch darum, die eigenständige Identität zu finden, und zwar in Deutschland wie Europa.
Abschließend stattete Hauptorganisator Michael Hacker seinen Dank an alle Beteiligten ab. Er verwies darauf, dass bereits 1817 von der Burschenschaft Grundrechte formuliert worden seien, die 1849, 1919 und 1949 Niederschlag in den demokratischen deutschen Verfassungen gefunden haben. Daher sei es unverständlich, wenn die Korporationen bei den offiziellen Feiern des Paulskirchenjubiläums weder erwähnt, noch beteiligt worden seien, sondern sogar deren Veranstaltungen in der Paulskirche noch auf Druck aus dem linken politischen Lager verhindert worden seien. Auch er rief zur Verteidigung der Demokratie auf, mahnte aber auch an, dass Angriffe auf Verbindungshäuser und Verbindungsstudenten von Politik und Presse als krimineller und demokratiefeindlicher Akt gebrandmarkt werden müssten.
Meinungsunterschiede, so Hacker weiter, müssten allein mit dem Wort ausgetragen werden, Gewalt sei niemals ein Mittel. Den Korporationen stellten sich daher gegen Gewalt, Hass und Antisemitismus und träten für ein friedliches Miteinander in Europa und der Welt ein. Alle Korporationen forderte er auf, eher verbindende Elemente statt unterschiedlicher Sitten und Gebräuche zu betonen und sich mehr gegenüber der Stadtöffentlichkeit zu öffnen, statt sich in den Häuser einzuschließen. Er lobte die gute Entwicklung der Beziehungen zum Rektor Hoch. Die Arbeit des Rektors lobte er ausdrücklich, die Erfolge für die Exzellenzuniversität Bonn, die sich auch in sechs Exzellenzclustern niederschlage, sei maßgeblich sein Erfolg.
Mit solch guten Impressionen und Hoffnungen gingen die Bonner Verbindungsstudenten und die teils von weither angereisten Gäste auseinander, und vor der Tür des Saales, das Muffendorfer Fachwerkidyll durchschreitend, wurde ihnen plastisch vor Augen geführt, wo ihre so spezielle und eigenwillige Tradition ihre Wurzeln hat, was es zu bewahren gilt. Nach dem ernsten Gedenken auf dem Kommers gab es, wieder am Bonner Rheinufer angelangt, in diversen Verbindungshäusern muntere und feuchtfröhliche Exkneipen, die frohen Sinne bestärkt durch die schöne und wertvolle Tradition studentischer Gesellung, die im besten Sinne „Verbindung“ ist. Und bleiben soll.
Michael Hacker / Sebastian Sigler