1848 neu gedacht: Clotilde Koch-Gontard und das Parlament der Paulskirche

Vom 30. März bis zum 16. Dezember 1848 schrieb Clotilde Koch-Gontard ein Tagebuch. Sie schuf damit eine einzigartige Quelle, denn es war nicht irgendein Jahr, nicht irgendein Ort, sondern Frankfurt am Main, 1848, Revolutionsjahr! Und es waren auch keine beliebigen Aufzeichnungen, denn diese Frau betrieb die in der alten Kaiserstadt am Main einen politischen Salon, trat auch als Unternehmerin in Erscheinung, und sie schrieb ein höchst politisches Tagebuch. Ein Parlamentstagebuch.

Helma Brunck hat nun eine Biographie für Clotilde Koch-Gontard vorgelegt. Ein Desiderat! Speziell die korporierten Leser merken das beizeiten, denn zunächst nähert sich die Autorin, die in diesem Genre über eine große Expertise verfügt, dem Phänomen des Salons an, beginnend, wie könnte es anders sein, bei Bettina von Arnim. Doch bald schon tritt Madame Koch-Gontard als „Parlamentsmutter“ auf, wobei ihr der Titel durch Heinrich von Gagern verliehen wurde, den Präsidenten des Paulkirchenparlaments und höchst profilierten Burschenschafter – womit der entscheidende Begriff gefallen wäre!

Beeindruckendes Dokument: das komplett erhalten gebliebene Parlamentstagebuch der Clotilde Koch-Gontard, Seite 1.

Für Studentenhistoriker besonders interessant ist die kompakte, höchst profunde, die großen Linie souverän nachzeichnende Schilderung der Vorgeschichte und der Hintergründe der Revolution von 1848. Fesselnd wie ein Krimi die Passage von der abschließenden Sitzung des Vorparlaments, in die sie sich hineinmogeln konnte, um die leidenschaftliche Rede des Präsidenten Joseph Anton Mittermaier zu hören. Frauen waren nicht zugelassen. Sie schaffte es trotdem, hier und zu vielen anderen Gelegenheiten dabeizusein.

Nicht minder faszinierend auch der Eindruck, den sie vom Präsidenten des Parlamentes übermittelt: „Was Gagern angelangt, so steigt er täglich in den Augen all derer, mit denen ich in Berührung komme. Die Würde, mit welcher er auftritt, ist außerordentlich. Wenn er da oben steht, habe ich immer ein Gefühl von Furcht und Schüch-ternheit vor dieser geistigen und sittlichen Größe.“ (S. 87 f.) Doch nicht nur die Frauen finden Erwähnung, sondern zum Beispiel auch der Tod des Bruders Heinrichs von Gagern, Friedrich, Göttinger Rhenane und Hannoveraner, Heidelberger Burschenschafter – Teutonia und Allgemeinheit –, der als General im Gefecht von Kandern gegen Friedrich Hecker Rhenaniae, Hassiae, Palatiae Heidelberg sein Leben lassen musste. Die ganze Revolution von 1848 – ein einziges Stück Studentengeschichte, höchst kundig erläutert und bestens sortiert von Helma Brunck.

Auch die Jahre nach 1848, diesem so entscheidenden Jahr, dokumentiert die Autorin. Denn die Wirkungen, die vom Frankfurter Paulskirchenparlament ausgingen, reichten bis weit in die Zeit des Wilhelminischen Kaiserreiches, ja, sie waren für die Gründung der Bundesrepublik höchst wirkmächtig. Und auch im amerikanischen Bürgerkrieg waren sie mehr als prominent präsent durch die „48ers“. Wohlmöglich entschied deren mehrheitliches Eintreten für den Norden, für die „Yankees“, häufig in hohen Offiziersrängen – aufgrund revolutionärer Erfahrung von 1848/49 –, diesen Bürgerkrieg auf dem Boden der USA. Namen wie Friedrich Hecker, der den Heidelberger Corps Rhenania, Hassia und Palatia angehörte, und Carl Schurz, Burschenschaft Franconia Bonn, stehen exemplarisch für viele dieser „48ers“!

Lesen Sie auch die Rezension für dieses Buch auch in der Netzzeitung Tabula Rasa.

Speziell für Studentenhistoriker eine Lektüre mit großem Gewinn: Helma Bruncks Biographie der Clotilde Koch-Gontard.

Helma Brunck bringt neben Clotilde Koch-Gontard viele Frauen zu Ehren, deren Rolle während Revolutionszeit bislang fast völlig im Schatten blieb, während die männlichen Protagonisten, häufig aufgrund der guten Quellenlage in ihren jeweiligen Studentenverbindungen, deutlich präsenter sind. Anhand einschlägiger Quellen und Literatur kann hier nun nachgewiesen werden, dass Frauen im 19. Jahrhundert selbstverständlich kein bisschen weniger politisch interessiert und engagiert waren als Männer. Sie gaben sich nicht mit der Rolle der Zuschauerinnen und Dulderinnen der Ereignisse zufrieden, sondern griffen entsprechend ihrem tatsächlichen Handlungsvermögen ein.

Bei dieser Biographie handelt sich um eine völlig von der neumodischen Geschlechterforschung freie und gerade deswegen wahrlich und wirklich gendergerechte Aufarbeitung der Geschichte der Revolutionszeit. Der ansonsten weit verbreitete unangenehm-fordernde, quengelnde und bisweilen unverschämte Ton der Gender-Diskussion wird bei Helma Brumck komplett vermieden und umgangen. Chapeau! Die Autorin wird deutlich, bleibt aber sachlich und immer höflich – stark! Sie trägt dazu bei, die von Frauen geführten Salons in ihrer Bedeutung als Forum nicht nur für Deutschland, sondern europaweit zu erkennen. Das betrifft dann ebenso auch die Zeit nach der Revolution, es betrifft Männer wie Frauen gleichermaßen. Denn es betrifft den ganzen Weg zu einer Demokratie in Deutschland, die mit dem – verspäteten – Frauenwahlrecht erst ihren Namen verdiente.

Die Historische Kommission für Darmstadt und die Historische Kommission Hessen, die diesen Band herausgeben, haben wieder auf ihre bewährte, solide Form eines fest eingebundenen, schön und dezent gestalteten Buches zurückgegriffen. Der Rezensent freut sich, nimmt einen solcherart kompakt und bescheiden, dabei aber höchst soliden Band gerne zur Hand und kann dieses Buch nur wärmstens empfehlen!

Brunck, Helma, Clotilde Koch-Gontard (1813 – 1869): Salonnière, Unternehmerin und Zeugin einer bewegten Zeit, Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 189, Darmstadt 2023, 212 Seiten, fest eingebunden, zahlr. Abb. s/w, 978-3-88443-344-7, 28 Euro.

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