Keineswegs so abgeschlossen und unbeeindruckt vom großen Weltgeschehen, wie es auf den ersten Blick hin scheinen mag, präsentierten sich die Schweizer Verbindungen in der von Krieg und Gewalt geprägten Zeit zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie gehen damit d’accord mit ihrem ganzen Land im Herzen Europas, das unter dem unüberwindbaren Schutz der Berge und der Armee, dem sprichwörtlichen Fleiß und mit großem Wohlstand im weltweiten Wechselstreit der Systeme wie eine Insel der Seligen gewirkt haben muß.
Einen wesentlichen Teil des Erfolgs verdankt die Schweiz ihren Fähigkeiten sowie dem Bestreben um internationalen Austausch, Diplomatie und Weltoffenheit. Auch seine Hochschulen und ihr vielfältiges Corporationswesen zeugen von einem stets wachen Geist eidgenössischen Selbstbewußtseins, das sich nicht in der bloßen Pflege stolzen Schweizertums erschöpft, sondern sich mit jenen Kräften, die die Welt bewegen und bisweilen aus den Angeln zu heben drohen, intensiv auseinandersetzt: Wie auf die pure Luft zum Atmen weiß sich die Schweiz so mit Blick auf die Welt mitverantwortlich für die Schaffung beziehungsweise Erhaltung eines Klimas des Friedens, der Freiheit und der Demokratie.
Mit seiner zweibändig angelegten, großen Studie „Das schweizerische Corporationswesen“ zwischen „1930 bis 1940“ sowie „1941 bis 1950“ hat der im Jahr 2022 unter tragischen Umständen verstorbene Schweizer Historiker, Journalist und Pädagoge Paul Ehinger, Mitgründer der Schweizerischen Vereinigung für Studentengeschichte (SVSt), ein Werk vorgelegt, das kurzweilig lesbar ist. Gleichzeitig ist es analytisch scharf nach unterschiedlichen Themenfeldern, die die Schweizer Verbindungen in diesem Zeitraum beschäftigten, gegliedert. Nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Fallbeispiele verdient weit über den engeren Kreis der Betroffenen große Hochachtung. Nach dem ersten Band im Jahr 2018 liegt das im WJK-Verlag erschienene Buch als Krönung seines Schaffens im Jahr 2024, posthum bearbeitet von Sohn Markus Ehinger und Hans F. Wälty – alle drei Bundesbrüder der Zofingia Zürich –, abgeschlossen als Einheit vor.
In zehn Kapiteln und auf über 400 Seiten – im Zentrum der Weltkrieg unter dem unerbittlichen Machtanspruch Hitlerdeutschlands und untrennbar im Zusammenhang die anschließende Nachkriegszeit mit dem Aufbau einer neuen Weltordnung zwischen Ost und West – wird so nicht nur das schweizerische Corporationswesen in seiner Vielgestalt und Eigenart in dieser kurzen, aber ungemein dichten Zeitspanne plastisch dargestellt wie das hundertjährige Bestehen des Schweizerischen Studentenvereins 1941 oder die Feier der 50-jährigen Rekonstitution der freisinnigen Helvetia Zürich 1943. Trotz Krieg wurden der Couleur- und Mensurbetrieb in den Corporationen nach anfänglicher Pauuse wieder aufgenommen, aber auch die Frage nach notwendigen, zeitgemäßen inneren Reformen gestellt. Die wenigen deutschen Corporationen in der Schweiz hatten spätestens 1939 suspendiert – die von Hitler befohlene Reichsstudentenführung hatte die Weiterführung von Corporationen im Ausland ohnehin verboten, und es gelang ihr de facto, das auch durchzusetzen.
Viel wichtiger neben der historischen Dokumentation – neben den Verbandsarchiven wurde insbesondere die Periodika einzelner Verbindungen und Verbände akribisch ausgewertet – sind Ehinger als Autor die Signale, die die verschiedenen Zweige des Corporationswesens in dieser Zeit aufnahmen, und welche Impulse sie in die schweizerische Innen- und Außenpolitik aussandten. So schrieb der 1920 geborene Theologiestudent und spätere Professor für Kirchengeschichte Andreas Lindt in einer Analyse zur Lage der Schweiz Anfang 1942 schrieb klar: „Als Schweizer und Zofinger müssen wir jede Form von Anpassung an das heute auf dem europäischen Kontinent herrschende Staatssystem und die damit verbundene Weltanschauung ablehnen, wenn anders wir uns nicht unsere ganze Existenzberechtigung eben als Schweizer und Zofinger rauben wollen.“
Dabei war auch die Schweiz in den Jahren zuvor nicht unberührt geblieben von den militärischen Erfolgen des autoritären Nachbarn – während die Corporationen zu Kriegsbeginn sich selbst in den Dienst der vaterländischen Wehrhaftmachung stellten und infolge Mobilmachung der Armee zeitweise sehr unter Nachwuchsproblemen litten, wechselten rund 2.000 Schweizer, darunter nicht wenige Studenten, die Seite und kämpften in der Waffen-SS an der vermeintlichen Befreiung Europas vom Gespenst des Kommunismus mit. Bereits vor 1945 wurde in den schweizerischen Corporationen nach Überwindung des Nationalsozialismus die Bedrohung durch den Bolschewismus ebenso erkannt wie ein kulturell einseitiger Hegemonieanspruch der USA abgelehnt.
Federführend waren sich insbesondere die Schweizerischen Corporationsverbände ihrer Verantwortung bewußt. Tatkräftig stützten sie mimt dem 1940 in Genf gegründeten Fonds Européen de Secours aux Étudiants (FESE), aber auch selbständig wie zum Beispiel durch Patenschaften der Linderung der geistig-materiellen Not ihrer Kommilitonen in den europäischen Nachbarländern. Trotzdem war ein Bewußtsein um die größere geistig-kulturelle Einheit Europas stets auch in ihnen wach. Nach 1945 wurde schrittweiser das sogenannte Schweizerprinzip aufgegeben. Zunehmend wurden nun ausländische und vor allem deutsche Studenten Mitglieder in Schweizer Verbindungen. 1974 gehörte der Schweizerische Studentenverein zu den Mitgründern des Europäischen Kartellverbands (EKV), und 2024 war das 100-jährige Bestehen des Arbeitskreises der Studentenhistoriker in Heidelberg zugleich die 10. europäische Tagung der deutschen, österreichischen und schweizerischen Forscher, deren geschätzter Redner und Gast in den Jahrzehnten davor stets auch Ehinger gewesen war.
Alles in allem können selbst kleinere formale Schwächen den positiven Gesamteindruck des durchweg sauber lektorierten Werks jedoch nicht schwächen – wünschenswert wäre um der besseren Verstehbarkeit willen eine Auflösung der zahlreichen, schweizspezifischen in den Fußnoten versteckten Abkürzungen wie für die nichtschweizerischen Leser eine Übersetzung der französischen Zitate gewesen. Ein Sachregister würde die insbesondere die Auffindbarkeit einzelner Corporationen im Lauftext erleichtern. Die facettenreiche, strukturierte und kritische Aufarbeitung Schweizer Studentengeschichte auf dem Hintergrund der geistig-politischen Entwicklung Europas in den Jahren 1930 bis 1950 wird bleibend mit dem Namen des weit über seine Heimat hinaus anerkannten Couleurikers Paul Ehinger verbunden sein.
Dr. Bernhard Grün Mm!
Paul Ehinger, Hans F. Wälty, Markus Ehinger: Das schweizerische Corporationswesen 1941 bis 1950, 440 Seiten, ISBN 978-3-91067-30-7, Hilden 2024, 48,90
Euro Paul Ehinger: Das schweizerische Corporationswesen 1930 bis 1940, 878 Seiten, ISBN 978-3-947388-07-3, Hilden 2018, 69,90 Euro.