Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt

Christopher Clark zeigt in einem neuen Opus magnum die europäische, ja, weltweite Reichweite und Interdependenz der Ereignisse, die heute gerne unter „1848“ subsummiert werden. Das ist höchst interessant. Studentenhistoriker kommen aber nur sehr eingeschränkt auf ihre Kosten.

Die revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 werden bei uns meist auf die Aufstände in Berlin, Wien und Baden sowie die Frankfurter Nationalversammlung beschränkt erinnert. Die vergleichsweise kleinen offiziellen Gedenkveranstaltungen in der Paulskirche, auf etwas verkniffene Weise abgehalten zum Jubiläum 2023, bildeten hier keine Ausnahme. Darüber hinaus wird allenfalls noch die Februarrevolution in Paris als Auslöser wahrgenommen. Das Gedenken von Korporierten, das thematisch ausgeglichener gewesen wäre, wurde mit den Mitteln der Verwaltung und der Bürokratie gleich im Keim erstickt.

Trotz der auch hier ungenügenden Einordnung der Korporierten letztlich sehr lesenswert: das neue Opus magnum von Christopher Clark.

Der australische und in England lehrende Historiker, bekannt insbesondere durch sein Werk über den Weg in den Ersten Weltkrieg, „Die Schlafwandler“, schildert die vielfältigen Vorgängerereignisse und die eigentlichen Revolutionen und  Konterrevolutionen in Italien, Ungarn, Rumänien, Spanien, in der Schweiz. Natürlich werden auch die Ereignisse in Deutschland und Frankreich geschildert, aber vor allem werden sie in einen größeren Zusammenhang gestellt. Denn diese Ereignisse hatten Auswirkungen bis nach Südamerika, in die Karibik und nach Australien – all das lesen wir nun ausführlicher denn je bei Clark.

Neben den zahlreichen Werken von Historikern werden auch viele Zeitzeugenberichte ausgewertet, die für 1848, anders als den Revolutionen von 1789 und 1830, zahlreich vorliegen, auch von Frauen. Die wirtschaftlichen und sozialen Ursachen sieht er schon weit vor den Aufständen angelegt und die Aufstände waren nicht das Ergebnis von Planung und Absprachen, sondern eher von unbeabsichtigten Eskalationen, wobei Schaulustige und Dummköpfe als wesentliche revolutionäre Masse fungierten. Seine Darstellung geht daher zurück bis zu den Revolutionen in der ersten Jahrhunderthälfte und beleuchtet auch die Themen Sklaverei, Emanzipation der Juden und Gleichstellung der Frauen. Und wie interessant – das Wahlrecht für Frauen wurde selbst von Radikalen damals noch nicht gefordert, obwohl Frauen einen hohen Anteil an den Aufständen hatten. Im Ergebnis waren nicht nur eine hohe Zahl von Toten und Verwundeten, sondern auch zahlreiche politische Flüchtlinge, Verurteilte und Deportierte zu beklagen.

Clark weist auf viele überholte Urteile und Widersprüchlichkeiten hin. So waren die sozialen Verhältnisse nicht der Auslöser der Unruhen. Das eigene nationale Selbstbestimmungsrecht hinderte nicht daran, anderen Völkern das selbige vorzuenthalten, genauso wie das Verfechten der persönlichen Freiheitsrechte durchaus Hand in Hand mit einer negativen Einstellung zur Sklavenbefreiung gehen konnte. Die Koalitionen seien ebenfalls widersprüchlich gewesen, da nationale Zugehörigkeit von den sozialen Unterschieden überlagert werden konnte, wenn z.B. polnische Bauern halfen den Aufstand der polnischen Adeligen gegen die Habsburger zu beenden. Der Nationalismus habe grenzübergreifend aber die Revolutionäre voneinander getrennt – „nationale Differenz triumphierte über revolutionäre Solidarität“. Clark lenkt auch die Aufmerksamkeit auf neue „Formate“ der politischen Diskussion und Meinungsäußerung: Bankette und politische Clubs sowie eine Menge von z.T. kurzlebigen Zeitungen sowie „Volkskalender“ prägten das politische Geschehen. Neben Demonstrationen und Barrikadenkämpfen gehörten auch „Katzenmusiken“ zur politischen Auseinandersetzung.

Im Ergebnis sieht er die Revolutionen nicht durchweg als gescheitert an, da erstmals in vielen Staaten Verfassungen erlassen und Parlamente gewählt wurden, Verfassungen, die z.T. – wie in Dänemark – noch heute gültig sind. Außerdem sei die politische Haltung vieler Politiker nach den Ereignissen eine deutliche geänderte gegenüber der Zeit davor gewesen. Die Ereignisse von 1848 hätten auch die Nationalstaatsbildung insbesondere in Deutschland und Italien beschleunigt – „Patriotismus war inklusiver als Liberalismus und Radikalismus“. Dasselbe gilt für die sozialen Themen, die auf der Tagesordnung blieben. Eine Rückkehr zu den Zuständen vor 1848 habe es mit der Ausnahme des nur indirekt betroffenen Russlands nicht gegeben. Durch staatliche Investitionen in die Infrastruktur von Eisenbahnen oder Telegrafenleitungen wurden Arbeitsplätze und Wohlstand geschaffen, der die politischen Systeme verfestigte.

Dass die eigentlichen Absichten der Revolutionäre, eine parlamentarische Ordnung, liberale Verfassungen und Verbesserung der sozialen Verhältnisse zu schaffen, nicht erreicht worden seien, führt er auf mehrere Ursachen zurück: Die Unfähigkeit der Radikalen und Liberalen sich gegenseitig zuzuhören, fehlendes Verständnis der mehrheitlich dem städtischen Milieu entstammenden Abgeordneten für die Belange der damals größten Bevölkerungsgruppe, der Landbevölkerung, und Unterschätzung der Bedeutung der Macht  in Form von Kontrolle über Verwaltung und Militär, die bei den alten Kräften verblieben. Die notwendigen Freiheitsziele der Sklavenbefreiung, der Emanzipation der Juden und die Gleichstellung der Frau seien erst viel später erreicht worden.

Das Buch von Clark zeigt ein Kaleidoskop der revolutionären Ereignisse anhand sehr vieler Details, die auch bei Geschichtsinteressierten so nicht bekannt sein dürften. Er lässt lesenswert die Ursachen, die Ereignisse und die Folgen in einem gesamteuropäischen Zusammenhang aufscheinen, der im europäischen Gedächtnis weitgehend fehlt. Er schlägt auch den Zirkel zur politischen Gegenwart wie der Stürmung des Capitols, den Gelbwesten und Querdenkern. Der Autor sieht sogar Parallelen zu heute: Eine „nicht-revolutionäre Lösung der Polykrise scheint sehr weit entfernt zu sein“; hoffen wir, dass er nicht Recht behält.

Die deutsche Übersetzung aus dem Englischen ist nicht immer gelungen, was an der Übersetzung von „Fraternity“ durchweg als „Bruderschaft“ statt „Burschenschaft“ erkennbar ist, Sand wird zum „Burschenschaftler“. Die Nicht-Erwähnung der Korporationszugehörigkeit von korporierten Protagonisten kennt man ja auch von deutschen Autoren, die es noch eher besser wissen sollten.

Michael Hacker

Christopher Clark, Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt, München 2023; 1024 S., 42 s/w Abb. fünf Karten, gebunden, ISBN 978-3-421-04829-5, 48 Euro.

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