Bergengruen, „Goethe der Fünfziger Jahre“, wiederentdeckt im Lepanto-Almanach

Er gehörte der Burschenschaft Normannia Marburg an, die 1934 nach einer Station im Rudolstädter Senioren-Convent zum Weinheimer Corps wurde: Werner Bergengruen, Deutschbalte, bedeutender Schriftsteller des Widerstands gegen die NS-Diktatur. Seinem Schlüsselwerk „Der Großtyrann und das Gericht“ von 1935 folgte „Am Himmel wie auf Erden“. Es erschien 1940, als der Zweite Weltkrieg bereits entfesselt war, als der Bombenkrieg in Europa begann. Günter Scholdt kommentiert dieses bedeutende Werk des hellsichtigen Balten Bergengruen im neuen Lepanto-Almanach.

Ein gewichtiges Werk, vor allem auch geistesgeschichtlich: das Lepanto-Jahrbuch 2023/24

Der Lepanto-Almanach, bescheiden gestaltet, aber äußerlich wie innerlich gewichtig, entwickelt sich mehr und mehr zum Taktgeber für die wachsende Schar derer, die deutsche Geistesgeschichte nicht mit den Fragen nach Klimaklebern, Gendersternchen und Sondervermögen konnotieren und vermengen wollen. Der Text über Bergengruen gehört zum Hauptteil des Jahrbuches, in dem der Inhalt einer Tagung wiedergegeben wird, die im September 2022 in Fürstenried bei München stattfand: „Gertrud von le Fort im Strahlungsfeld des deutsch-französischen Renouveau catholique“. Die Dichterin, die von 1876 bis 1971 lebte, kommt in den dort gehaltenen Vorträgen, die durchaus eine breite öffentliche Aufmerksamkeit verdienen, wieder ins Gedächtnis und damit zu Ehren. Thematisiert wird ihre geistige Herkunft und die kulturelle Landschaft, in der sie wirkte. Dazu gehörte vor allem die deutschsprachige katholische Literaturbewegung, die seit der Jahrhundertwende für einen bemerkenswerten kulturellen Aufbruch sorgte und eng mit dem bereits genannten, gesamteuropäischen Renouveau catholique verbunden war.

Die Texte sind dieser Tagung im Lepanto-Almanach in wesentlich erweiterter und wissenschaftlich vertiefter Form versammelt. Die Namen der Autoren haben Klang und Gewicht: Gudrun Trausmuth, Veit Neumann, Andreas Matena, Felix Hornstein, Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz; grundlegend und breit angelegt ein Text aus der Feder von Christoph Fackelmann; vielleicht der Höhepunkt dieser großen Tagungs-Schau ist der sehr anrührende Günter Scholdt über Bergengruen, den er unter den Thema „Die große Angst“ stellt. Bergengruens Literatur ist einmal mehr als Dokument des Widerstands im Angesicht des Nationalsozialismus entdeckt worden.

Werner Bergengruen wohl im Jahre 1912 als Chargierter der Marburger Burschenschaft Normannia, die nicht mit der heutigen Normannia dort identisch ist, sondern über den Rudolstädter Verband zum Weinheimer Corps wurde, dessen Tradition heute Cheruskia Berlin zu Lüneburg hütet.

Neu in den Themenkanon des Lepanto-Almanachs aufgenommen wurde die Rubrik „Werkstatt“. Ausführlich darin die erwähnten Texte Walthers von der Vogelweide, kommentiert von Christoph Fackelmann. Erwähnenswert ist auch ein sehr anrührender Gedichtzyklus von Christoph Pola, der unter das Motto „Dunkle Seelennacht“ gestellt ist. Durchaus nützlich sind die Miszellen, unter „Umschau“ sind sie zusammengefasst. Darin fällt die Diskussion von Begriffen wir „Technokratie“, „Totalitarismus“ und „Propaganda“ auf – Till Kinzel mustert unter dem Oberbegriff „verfluchte Neuzeit“ die jüngst erschienene „Geschichte des reaktionären Denkens“ von Karl-Heinz Ott.

Insgesamt 602 überaus lesenswerte Seiten umfaßt der geistesgeschichtlich höchst reichhaltige Lepanto-Doppelband. Eine seiner wichtigsten Nachrichten: Der Widerstand-Literat und Korporierte Werner Bergengruen ist nicht vergessen, er hat immer noch wesentlich mehr Leser manch Schriftsteller, der dem Zeitgeist hinterherschreibt; auch sechs Jahrzehnte nach seinem Tod werden seine wichtigen und zentralen Bücher in renommierten Verlagen neu aufgelegt. Wenn aber die Frage nach den wichtigsten deutschen Schriftstellern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestellt wird, kommen trotzdem nur Wenige auf die Idee, Bergengruen zu erwähnen. Vor sechzig, siebzig Jahren war das anders. Eine Literaturwissenschaftlerin hat Bergengruen, möglicherweise auch mit leisem Spott, als den „Goethe der Fünfziger Jahre“ bezeichnet. Es wäre durchaus angebracht, wenn er durch seine unbestechlichen Analysen und seinen klaren Blick auch zum Goethe der Zwanziger Jahre würde: der 2020er.

Lepanto-Almanach – Jahrbuch für christliche Literatur- und Geistesgeschichte, Band 4/5, Jahrgänge 2023/24, Rückersdorf üb. Nürnberg: Lepanto Verlag 2023; Broschur mit Kunstdruckeinlage, 602 Seiten, ISBN 978-3-942605-34-2, € 20,90.

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