Werner Bergengruens Werke gehörten nach 1945 im deutschen Sprachraum zu den meistgelesenen Büchern. Er ist damit einer der prominentesten korporierten Literaten. Meist werden indessen die Romane genannt: Seinem Schlüsselwerk „Der Großtyrann und das Gericht“ von 1935 folgte „Am Himmel wie auf Erden“. Es erschien 1940, als der Zweite Weltkrieg bereits entfesselt war. In einer bemerkenswerten Neuerscheinung rückt nun die Lyrik des Deutschbalten Bergengruen, der bereits 1937 als Kritiker der NS-Diktatur erkannt und aus der Reichsschriftkammer ausgeschlossen worden war, in den Mittelpunkt.
Bergengruen gehörte der Burschenschaft Normannia Marburg an, die 1934 nach einer Station im Rudolstädter Senioren-Convent zum Weinheimer Corps wurde und deren Tradition heute vom Corps Cheruskia Lüneburg bewahrt wird, das allerdings selbst derzeit vertagt ist. Diese Normannia hat, der Vollständigkeit halber sei’s erwähnt, mit der heutigen Normannia Leipzig zu Marburg nichts zu tun.
Ausgehend von Bergengruen, dann aber bald den Tübinger Igel-Mann Dietrich Bonhoeffer entdeckend, so beginnen wir die Lektüre. Schon sehr ist klar – ein Desiderat erster Güte ist dieser Doppelband! Das literarische Wirken einer ganzen Generation von Lyrikern, das Hitler verbieten ließ: Es hat uns schlichtweg gefehlt! Durch die vorliegende Anthologie wird die geistige Welt, die unter dem Nationalsozialismus zu Bruch ging, die in Strömen von Tränen und Blut versank, in kaum je dagewesener Breite und Tiefe aufgearbeitet und strukturiert. Auf 571 gedrängt vollen Seiten präsentiert der Lepanto-Verlag die verdrängte Lyrik, mit der sich die Breite des geistigen Widerstands gegen den Nationalsozialismus ermessen lässt. Wichtige Gedichte, die unser aller Leben begleiten, stehen neben völlig unbekannten Texten, die in zuweilen ergreifender Tiefe und Intensität vom unermesslichen Leid unter dem Hakenkreuz künden. Diese Anthologie ist, daran gemessen, die vielleicht wichtigste Neuerscheinung des gesamten Bücherherbstes 2024. Zusammen mit einem zweiten Band, in dem die Herausgeber eine Deutung vornehmen, in dem dann auch umfangreiche Register, eine Auflistung der einzelnen Gedichte nach den ersten Worten sowie ein akribisch zusammengestelltes Register zu finden sind, ergibt sich eine bestens erschlossene und übersichtlich nutzbare Gesamtedition von nicht weniger als 838 Seiten.
Albrecht Haushofer, Gertrud Kolmar, Jochen Klepper – natürlich sind uns die Namen derer, die das Hitler-Regime nicht überlebten, einigermaßen geläufig, und Bonhoeffer wurde schon genannt. Da sind aber auch die Literaten, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht als Widerstandskämpfer hervortraten, die vielleicht weitgehend unbehelligt blieben. Eine große Zahl dieser lyrischen Literaten ist in diesem Band mit einem Epochenwerk versammelt, das beredtes Zeugnis von stillem Widerstand, zu Papier gebrachter Verweigerung, unbeugsamer Ablehnung ist. All diese Gedichte reihen sich nahtlos und bruchlos zwischen den Texten der Fixsterne literarischen Bonhoeffer und Bergengruen ein. Letzterer, wir erwähnten ihn nicht umsonst eingangs, „entwickelte sich ab 1933 zum reimenden Polemiker, der eine Hundertschaft meist unpublizierter Schüttelreime verfaßte und im Freundeskreis vortrug“, wie die Herausgeber in ihrem nicht weniger als 174 Seiten starken „Leitfaden durch unbekanntes Terrain“ anmerken, einer umfassenden interpretatorischen Anleitung, der sie den bescheidenen Titel „Nachwort“ gaben.
Die als „Nachwort“ mit deutlichem Understatement titulierte Lesehilfe also teilt sich den zweiten Band dieser großen Anthologie mit den umfangreichen Registern und Anmerkungen. Und hier findet der Leser zahlreiche Belege für die klandestine literarische Widerstandstätigket rund um Bergengruen, Bonhoeffer, zum Beispiel auch beim bedeutenden Reinhold Schneider oder dem nicht weniger wirkmächtigen Wolfgang Borchert, der eben auch Lyriker war. Erst mit der Kenntnis dieses literarischen Kosmos des Widerstandes, der stillen Schreie, der hier gezeigt und gewürdigt werden, kann der verborgene Widerstand gegen die Nationalsozialisten vollständig erfasst werden, denn natürlich sind hier Autoren ganz unterschiedlicher Geisteshaltung versammelt. Der Lepanto-Verlag selbst schreibt völlig korrekt: „Diese Anthologie dokumentiert das Potential und den Facettenreichtum des nonkonformistischen Schreibens auf dem Gebiet der lyrischen Dichtkunst während der NS-Herrschaft und lädt zur Wiederbegegnung mit einer zu Unrecht vergessenen Welt ein!“ Sehr wichtig ist auch der Hinweis, dass diese Lyrik „manchmal das offene Zeugnis mutigen politischen Widerstands, manchmal der erstaunliche Konterpart zu Verwerfungen in der Biographie der Verfasser“ ist – denn mancher, der völlig unauffällig, quasi getarnt weiterlebte, hinterließ bewegende Widerstands-Lyrik.
Eine ganze Geisteswelt wird in dieser Anthologie aufgeblättert, es sei eigens wiederholt, wenn es um den Überblick geht, der im übrigen in einem ausführlichen Nachwort unter dem Titel eines „Leitfadens“ durch die Herausgeber angeboten wird. Zunächst werden die Protagonisten in „Gesichtern aus der inneren Emigration“ dargestellt, danach wird der Leser in „Mythische Welten“ entführt. Exemplarisch sei noch das vierte Kapitel unter dem Rubrum „Den Feind im Visier“ herausgehoben, in dem sich Bergengruens Gedicht „Auf Schicklgruber“ befindet – deutlicher geht es nicht. Der Glaube war den Dichtern in ihrem inneren Exil so wichtig und so präsent, dass die Herausgeber auch diesem Aspekt ein eigenes Kapitel gewidmet haben, und in diesem Zusammenhang dürfen dann auch Namen wie Gertrud von le Fort nicht fehlen. Eindeutig zur Inneren Emigration gezählt wird in dieser Anthologie Georg Britting, der seinerzeit nicht als öffentlich Widerstandskämpfer exponierte, sondern der gegen das Regime schrieb und dessen Lyrik eine breite Bühne geboten wird. Abermals ist es Bergengruen, der dem Verderben ein trotziges „Fürchtet Euch nicht“ entgegenstellt. Einzig das Kapitel „Tiere und Tierkreiszeichen“ kann nicht ganz überzeugen – es steht ein wenig quer zur ansonsten christlich geprägten Gesamtedition dieses Werkes, und vieles aus diesem Abschnitte hätte gut in anderen Kapiteln unterkommen können.
Gegen Ende bewegt sich die große Anthologie auf eine Klimax zu. Das Kapitel „Krieg und Soldatentum“ behandelt nicht den Widerstand im engeren Sinne, sondern das Leid. Das eigentlich unaussprechliche Leid, das nur durch die Verdichtung in der Lyrik annähernd fassbar wird. Dieses Kapitel liefert den Grund, ja den unmittelbaren Beweis dafür, dass auch 1944 jeder Widerstand wichtig war, jedes Attentat versucht werden musste. Ein sehr hypothetisches Kriegsende nach einem erfolgreichen Stauffenberg-Attentat hätte noch Millionen von Menschenleben gerettet, hätte über die Hälfte der bis April 1945 zerstörten Altstädte vor dem Bomben bewahrt. Hier liegt also der Grund, warum die letzthin von interessierter Seite betriebene Demontage der Erinnerung an den Grafen Stauffenberg keine historische Grundlage hat. Von der Geißel des Zeitgeistes, als „Dekonstruktion“ bekannt, hält sich diese wichtige Arbeit völlig fern. Ein weiterer Grund dafür, dass dieser Lyriksammlung eine langanhaltende Wirkung verhergesagt werden kann.
„Schicksale und Gestalten“ – Albrecht Goes und Werner Bergengruen markieren den Beginn dieses wichtigen Abschnittes, in dem der Glaubensbezug nochmals stärker als zuvor in den Mittelpunkt tritt. Hier wird mit jedem einzelnen Gedicht auf erschütternde, nach Autor unterschiedlich stark hervortretende Art und Weise Bezug auf den christlichen Glauben genommen. Echte und tiefe Glaubenszeugnisse, wie sie von Frontsoldaten, verfolgten Menschenfreunden, Alten, Kranken und Verzweifelten kommen, wenn die Nacht der Diktatur hereingebrochen ist. Hellsichtig und in der Rückschau höchst politisch dichtete Jochen Klepper in seinem Weihnachtslied „Die Nacht ist vorgedrungen“ in der abschließenden Strophe: „Gott will im Dunkel wohnen / und hat es doch erhellt. / Als wollte er belohnen, / so richtet er die Welt.“ – Doch der Autor und seine aus jüdischem Hause stammende Ehefrau sollten die Morgenröte nach der Diktatur nicht erleben. Sie wählten mit ihrer Familie den Freitod. So ernst ist er, der Hintergrund dieser Anthologie, und das übrigens fast durchgängig. Das macht sie so eminent wichtig.
Der erste Band, der die Lyrik enthält, ist nach Themengebieten geordnet. Das wirkt auf den ersten Blick etwas sperrig, ist man doch die Sortierung nach Autoren eher gewohnt. Doch im Laufe der Lektüre lernt der Leser, den Herausgebern zu vertrauen. Die Sortierung, die sie vornahmen, ist ein wesentliches Merkmal dieser Anthologie, denn nun werden die Bezüge der Texte zueinander deutlich, die Interaktionen der Autoren erkennbar. Die herausgeberische Leistung ist überzeugend. Durch die Anordnung der Texte gelingt es, wenig beachtete oder gar völlig unbekannt gebliebene Autoren ans Licht zu holen. Es kann nur wiederholt werden: Die Gesamtheit, die immense Breite des literarischen Schaffens, das durch die Ablehnung des Nationalsozialismus gekennzeichnet ist, wird in diesem doppelbändigen, schön und schlicht gestalteten, aber broschierten Werk erfahrbar. Sollten diese „Eisblumen“ eine große Verbreitung finden, was unbedingt zu wünschen ist, hätte diese höchst wichtige Gedichtsammlung eine zweite Auflage in einer noch hochwertigeren, gebundenen Form mit Lesefäden mehr als verdient.
Wie Thomas Mann ins Exil zu gehen, das war für die Schriftsteller deutscher Zunge eine Möglichkeit, die NS-Diktatur zu überstehen, der stille Protest eine andere – Erich Kästner verkörpert diese Gruppe. Welcher Weg „gerecht“ oder „richtig“ war – wer wollte das heute entscheiden? Unbestritten ist jedoch das Verdienst der Herausgeber dieser Anthologie, den Autoren der „inneren Emigration“ nun endlich die verdiente Würdigung zu geben, denn wer liest Georg Britting, wer Elisabeth Langgässer, wer Oskar Loerke? Das geschieht auch, indem sie gleichberechtigt neben weltweit wirksame Texte wie die Lieder aus der Feder Dietrich Bonhoeffers und Jochen Kleppers gestellt werden. Und so geht der Blick auch über diesen Band hinaus, zum Beispiel zu Paul Celan, der durch Nationalsozialisten in seiner Heimat Czernowitz zum Heimatlosen wurde – und wohl zeitlebens blieb. Seine „Todesfuge“ gehört, so wie Bonhoeffers Gedicht „Von guten Mächten still umgeben“, das er 1944 aus dem Gefängnis schmuggeln ließ, wohl zu den wichtigsten zehn Texten des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache. Und dieses Buch bietet den Rahmen, bietet die Einordnung, bietet auch Bereicherung und Ergänzung. Die bei Lepanto erschienenen „Eisblumen“ sind schlichtweg unverzichtbar. Der Titel des Werkes ist passend gewählt: Je genauer man hineinschaut, desto großartiger erstrahlen die in kultureller Eiszeit entstandenen Geistesblüten in unendlicher Vielfalt und Schönheit.
Günter Scholdt und Christoph Fackelmann (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit Ruth Wahlster: Eisblumen. Nonkonformistische Lyrik im Dritten Reich. Eine Anthologie. Lepanto-Verlag, Rückersdorf über Nürnberg, 2 Bände, zus. 842 S., broschiert, ISBN: 978-3-942605-32-8, 32 Euro.