In Plötzensee, unter den Fleischerhaken, an denen die Nationalsozialisten hunderte ihrer Gegner henkten, gedachten die Kösener und Weinheimer Corpsstudenten angesichts des 80. Jahrestages des Stauffenberg-Attentats der Widerstandskämpfer aus ihren Reihen. Intensiv, zutiefst berührend, ohne jede Umdeutung oder Relativierung, dafür aber mit aktuellen und zukunftsgewandten Gedanken – so präsentierten sich die Verbände, und allen voran Hans Christoph v. Rohr Saxo-Borussiae, der die große Gedenkrede hielt.
Peter Graf Yorck v. Wartenburg, Albrecht v. Hagen, Fritz-Dietlof Graf v. der Schulenburg, Adam v. Trott zu Solz, Kurt Gerstein, Hans Koch, Eduard Brücklmeier, Ulrich v. Hassell – prominente Namen. Alle waren sie zu Studienzeiten als Corpsstudenten aktiv. Sie wurden durch Hitlers Henker an Fleischerhaken mittels dünner Drahtschlingen qualvoll gehenkt, die Mehrzahl von ihnen am Ort der Gedenkveranstaltung. In dieser Baracke. In Plötzensee. Rund 120 Corpsstudenten, darunter auch Familienmitglieder, vielfach direkte Nachfahren, gaben den Corpsstudenten im Widerstand die Ehre.
Ein Sohn eines Widerstandkämpfers, der selbst nur knapp überlebte, ist auch Hans Christoph v. Rohr. Er hielt eine überaus bemerkenswerte Rede, die er wie folgt begann: „Achtzig Jahre ist es her, als in der dunkelsten Phase unserer Geschichte ein Leuchtfeuer des Anstands aufschien, das der Welt, das uns Heutigen zeigt: Es gab ein anderes, ein der Würde des Menschen verpflichtetes Deutschland, vor dem wir in Demut und Dankbarkeit das Haupt senken können. Im Laufe der Zeit ist der 20. Juli über den Tag der Erinnerung an das Stauffenberg-Attentat hinaus zum Symbol des Widerstands in seiner ganzen Breite geworden, des aus allen gesellschaftlichen Schichten gespeisten, von Gruppen und mutigen Einzeltätern, Konservativen und Kommunisten, Männern und Frauen geleisteten Widerstands gegen Hitlers Gewaltherrschaft.“
Rohr setzte fort: „In Dankbarkeit erinnern sollten wir uns aber auch der vielen, die zum Netzwerk des Widerstands gehörten, die den Attentätern auf vielfältige Weise halfen, ohne dass Hitlers Schergen sie erwischen konnten. Diese Männer haben ihr Leben, das Schicksal ihrer Familien genauso riskiert wie die Ermordeten. Allein im Kreis um Stauffenberg gab es dreißig, die überlebt haben – überlebt, weil selbst unter schwerster Folter, wie wir heute wissen, kein einziger Corpsstudent den Namen eines anderen, bis dahin verborgenen Widerständlers preisgegeben hat.“
Dann kam er zum Kern der Sache: „Wer das Bild all dieser Männer an sich vorüberziehen lässt, wird sich fragen, ob und in welcher Weise die corpsstudentische Erziehung, der generationsübergreifende Verbund vermeintlich Gleichgesinnter, ihr Verhalten beeinflusst hat. Dass Ideologie und Praxis der Nationalsozialisten allen unseren Corps seit ihrer Gründung wichtigen Prinzipien widersprachen, daran kann – jedenfalls aus heutiger Sicht – kein Zweifel bestehen: Persönliche Anstand, Pflichtbewusstsein, Toleranz, rechtsstaatliches Denken hatten im NS-System keinen Platz.“ Dennoch waren die Corps, und das sagte v. Rohr sehr klar, eben kein stabiles Bollwerk gegen die nationalsozialistische Vereinnahmung.
Höchst interessant sein Blick auf den Beginn des Widerstands: „Versuche, Hitler zu töten und das NS-Regime zu stürzen, gab es mehrfach. 1932 gewannen zwei Corpsbrüder die Unterstützung von Generaloberst Beck und dem Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, für eine ,durchgreifende Aktion gegen Hitler‘, um eine Machtübernahme dieses Mannes unter allen Umständen zu verhindern. Der Plan scheiterte, weil der für die Führung des Reiches in Aussicht genommene Kandidat, der Sachsenpreuße Carl Graf Behr-Behrenhoff, sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlte, er verstarb wenig später. Damit war nach dem Urteil der damals Beteiligten der entscheidende Zeitpunkt verpasst, um Hitlers totale Machtergreifung zu verhindern. 1932!“
Sehr gut gelang v. Rohr die Annäherung an die Frage, weswegen es zwischen der Mitgliedschaft in einem Corps und der Bereitschaft, im Kampf gegen Hitler sein Leben zu riskieren, eine gewisse Kongruenz gab, die sich auch angesichts einer objektiv sehr kleinen Gruppe personell durchaus signifikant ausnimmt. Rohr dazu: „Dann haben die Männer des 20. Juli den gewaltigen Schritt von der mehr oder weniger stillschweigenden Missbilligung des NS-Terrors, die sie mit vielen anderen verband, zur konkreten Handlung getan. Sie haben nicht gezögert sich in tödliche Gefahr zu begeben, womöglich sich selbst und ihre Familien zum Opfer zu bringen und damit vor der Welt und der Geschichte das Zeichen zu setzen, auf dem unser Land nach 1945 aufbauen konnte: Dass nicht das ganze deutsche Volk, besonders auch nicht seine Eliten, geschlossen und widerstandslos hinter Hitler gestanden haben.“
„Diese Männer besaßen ein in den Eckpfeilern gemeinsames Verständnis von Würde, Gerechtigkeit oder schlichtweg Anstand, das durch ihre Familien, durch den christlichen Glauben, durch soldatische Erfahrung und – so dürfen wir vermuten – auch durch ihre corpsstudentische Erziehung geprägt war“, so v. Rohr weiter, denn: „Sie brachten aus ihrer Aktivenzeit noch etwas mit: ein Kraftfeld, das für ihren Entschluss zur Tat und für dessen praktische Umsetzung entscheidend werden sollte. Es gab eine gemeinsame Plattform, eine Plattform aus Anstand, Tatkraft und Netzwerk, die zweifellos auch einen corpsstudentischen Pfeiler enthielt.“
Ganz besonders gewürdigt sei last but not least die Violinistin Mira Foron, 22, eine Schülerin von Julia Fischer, München. Bekannt ist diese Künstlerin seit mehr als einem Jahrzehnt als musikalisches Wunderkind, die in den großen europäischen Konzertsälen spielt und der allerorten eine Weltkarriere vorausgesagt wird. In Plötzensee drückte sie mit ihrer Geige unendliche Trauer und ehrendes Gedenken auf emotionaler Ebene in quasi unvergleichlicher Weise aus. So wurde diese berührende Trauerzeremonie mit Kunstgenuß allerersten Ranges vervollkommnet. Eine großartige künstlerische Umrahmung durch Mira Foron, die speziell Bachs überirdisch anmutende Sonate g-Moll für Violine solo BWV 1001 auf Weltniveau darbot.
Sebastian Sigler — Bilder: Marco Wilm