Die deutschen Universitäten und der Nationalsozialismus – bis heute hat diese Mesalliance zwischen akademischer Forschung und national(istisch)em Sozialismus größte Auswirkungen, die Forschung dazu ist dementsprechend wichtig. Michael Grüttner ist seit langem ein ausgewiesener Experte, wenn es um die akademische Welt und das Dritte Reich geht, seine „Studenten im Dritten Reich“ sind Standard und Maßstab. Umso größer die Erwartungen.
Aufmerksam nehmen wie „Talar und Hakenkreuz“ zur Hand. Im Inhaltsverzeichnis scheint es so, als sei der Epilog von der Schrifttype her etwas größer ausgewiesen als die umliegenden Kapitel – ungewöhnlich, eigentlich nicht zu erklären. Aber vielleicht beabsichtigt? Beginnen wir also die Lektüre genau hier, beim Epilog. Sehr klar und sachlich legt Grüttner in seinem Epilog eine ganze Reihe von Fakten für Aufarbeitung des NS-Unrechts an den heutigen bundesdeutschen Universitäten vor. Ein guter und heute aktueller Überblick, ausgezeichnet strukturiert, saubere Arbeit, eine wichtige Handreichung. Und dazu, wie wir sehen werden, ein guter Einstieg für weitere Forschungen.
Nun der Reihe nach. In seinem ersten Kapitel legt Grüttner einen Schwerpunkt auf die Frage, wie politisch Professoren und Studenten waren, in welche Richtung sie tendierten. Die Schrittmacherrolle, die die Universitäten beim Aufstieg der Nationalsozialisten hatten, wird unaufgeregt klargestellt. Unauflöslich gehören die Darstellung des grassierenden Antisemitismus und seiner Folgen dazu. Dieses knappe, aber alle wesentlichen Fakten berücksichtigende Kapitel wird abgeschlossen durch exemplarische Darstellungen der tiefen Verzweiflung, in der sich angesichts weltanschaulicher und vor allem größter finanzieller Unsicherheit fast alle Mitglieder der Hochschullehrerschaft befanden.
Machtübernahme. Was dieser Begriff bedeutet, schlüsselt Grüttner am Beispiel des Hissens von Hakenkreuzfahnen vor oder auf Universitätsgebäuden im zweiten Kapitel auf. Die Erosion von Recht und Ordnung bis zum völligen Abrutschen alles politischen Anstands stellt er plastisch und drastisch dar. Vorbildlich dabei aber die Objektivität, mit der er diese Machtübernahme an den Universitäten dokumentiert und erklärt. Gerade auch konservative und nationalkonservative Gruppen wurden von SA-Trupps und überzeugten Anhängern Hitlers als „Feinde“ wahrgenommen und energisch verfolgt – angesichts der in heutigen sozialistischen Kreisen kursierenden, gegenteiligen Narrative, gern nachgeplappert von grünen und gewerkschaftlichen Mileus, sei dies eigens erwähnt. Nicht zuletzt, weil es auch für alle Studentenverbindungen galt, alle ohne Ausnahme. Am Ende der allumfassenden braunen Machtbernahme standen Universitätsverfassungen, mit denen die in Jahrhunderten bewährte und im besten Sinne demokratische Ordinarienuniversität ad acta gelegt war. Ausführlich dokumentiert Grüttner die Reaktion gerade auch der Ordinarien aus der bürgerlichen Mitte und dem liberal-konservativen Lager. Gerade hier war die Angst vor Sozialismus in Reinkultur, vor dem Bolschewismus also, sehr stark ausgeprägt. So stark, dass sie dem Nationalsozialismus tragischerweise quasi in die Hände spielten, widerstrebend zum Teil. Eine luzide Analyse.
Kapitel drei zeigt, wie sehr Hitler selbst in die Hochschulpolitik eingriff, wozu auch – Grüttner verschweigt es nicht – der Verbot aller Studentenverbindungen gehörte. Gründlich widmet sich Grüttner den verschiedenen Machtzentren der NS-Hochschulpolitik. Besonders interessant ist der Abschnitt über den „Stab Heß“, in dem er darstellt, wie sich teils in Konkurrenz, teil in Übereinstimmung mit der NS-Hochschulkommission Parteiinteressen mit der themenbezogenen Sachpolitik überlagerten, wie oszillierende Unschärfefelder entstanden, in denen auch und nicht zuletzt Unrecht bis hin zu schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschehen konnten – der Stab Heß war insbesondere auf dem Gebiet der medizinischen Fakultäten aktiv. Ein weiteres, derart oszillierendes Feld entstand zwischen dem NS-Dozentenbund (NSDDB) und der Dienststelle Rosenberg. Nicht zuletzt übte die SS ihren erheblichen Einfluss auch auf die Universitäten aus. Grüttner nimmt sich die nötige Zeit, um die verschiedenen, auch gegenseitig im Zustand der Konkurrenz befindlichen Kräfte innerhalb der Bildungspolitik unter den Zeichen der NS-Diktatur darzustellen und zu bewerten.
Mit der Machtübernahme an den Universitäten war der Boden für Willkür und Ungerechtigkeit bereitet. Was passierte nun im „Kraftfeld der Politik“? Ein breit angelegtes Kapitel widmet Grüttner dieser Frage. Sehr logisch geht es dabei zuerst um das Führerprinzip und die daraus resultierenden Veränderungen, woraus sich dann die nächste Fragestellung zwingend ergibt: „Berufungen: Leistung oder Gesinnung?“ Grüttner bleibt sich treu, baut seine Argumente unaufgeregt und logisch auf. Speziell in der Frage des Schrumpfens von Lehrkörper und Universitäten insgesamt durch die Entrechtung und Vertreibung der Professoren und Studenten jüdischen Glaubens behandelt er völlig nüchtern – die Fakten lässt er für sich selbst sprechen, woraus das Buch insgesamt von Kapitel zu Kapitel immer mehr Kraft gewinnt. Zum vierten Kapitel gehören auch Bemerkungen zu den ab 1939 neu – und vorübergehend – gegründeten Reichsuniversitäten Straßburg und Posen. Dass die Etats der Universitäten während der ersten Kriegsjahre stetig stiegen, überrascht vielleicht diejenigen, die sich in die Materie erst einlesen – Grüttner erklärt es transparent und logisch. Mit einer knappen Schilderung der Not der letzten Kriegsjahre in ihrer Wirkung auf Forschung und Lehre schließt dies Kapitel.
Kapitel fünf ist den Professoren und den übrigen Lehrbeauftragten gewidmet. Gleich zu Beginn stellt Grüttner dar, wie stark die sozialistische Komponente gewichtet wurde, fast tritt sie hinter den Aspekt des Nationalen zurück. Ihrem linken, ja, linksextremen geistigen Ursprung blieb die NSDAP, in deren Parteinamen das „S“ für „sozialistisch“ stand, durchaus treu. Die Ausarbeitungen zur Berufungspraxis, auch die statistischen Angaben dieses Kapitels sind sehr speziell, aber notwendig. Sie sind Grundlage zukünftiger bildungspolitischer Forschung, und es ist Grüttners Verdienst, sie erstens in der nun schon bekannten, sachlich-vollständigen Art aufgezeigt zu haben und ihnen zweitens einen gebührenden Platz eingeräumt zu haben. Das betrifft insbesondere auch die Parteimitgliedschaft, die denn rund zehn Prozent der Bevölkerung waren 1945 Parteimitglieder – aber eine absolut Mehrheit Professoren, deutlich unterschiedlich zwischen den Universitäten. Für ihr starkes nationalsozialistisches Engagement nennt er drei Gründe: Erstens Überzeugung, zweitens Angst vor dem Regime, drittens ganz im Gegenteil, vor allem bei den Jüngeren, die Hoffnung auf ein besseres Fortkommen. Die Ordinarien verhielten sich dabei mehrheitlich zunächst abwartend beziehungsweise – offen oder klandestin – ablehnend.
Grüttner gibt der Darstellung der in unterschiedlichen Positionen mit der Lehre befassten – die Zahl der Professorinnen war verschwindend klein – breiten Raum. Einzelne Eindrücke erlaubt sich der Referent herauszupicken. Max Planck war zwar von den Leistungen der Wehrmacht sehr beeindruckt, mahnte aber ab Kriegsbeginn zum Frieden und beklagt die Opfer des Krieges – schon diese Äußerung: keine Selbstverständlichkeit. Die Historiker Friedrich Meinecke und Hermann Oncken, beide dem Sozialismus fernstehend – zwangsweise emeritiert. Hellsichtige Historikerkollegen sahen schon 1941 jede Hoffnung auf einen Endsieg erlöschen, erwarteten eine grausame militärische Niederlage. Auch deutlich hörbare Aufschreie angesichts des bekanntwerdenden Holocaust dokumentiert Grüttner – indes, es waren zahlenmäßig nur wenige. Sehr interessant die Typologie, die Grüttner auf den hier bereits genannten Grundlagen entwirft – nicht alles kann jedoch hier vorweggenommen werden. Den Abschluss des fast schon monumentalen fünften Kapitels bildet ein Abschnitt unter dem Titel: „Das Scheitern der Vordenker“, wobei hier pars pro toto die Namen Martin Heidegger und Carl Schmitt genannt seien.
Im sechsten Kapitel begibt sich Grüttner auf eine Metaebene, wenn er die Weltanschauung des Nationalsozialismus in Relation zur Wissenschaft an sich setzt. Zunächst nämlich räumt er mit dem Vorwurf auf, die NSDAP sei ganz allgemein als wissenschaftsfeindlich zu klassifizieren. Ein Beleg dafür: 1937 überstiegen die Ausgaben für die universitär betriebene Wissenschaft den Höchstwert, der in der Weimarer Republik vor der Weltwirtschaftskrise, 1929, erreicht worden war. Nur, und das folgt auf dem Fuße, wurde die Wissenschaft gezielt im Sinne der NSDAP umgebaut. Lehrstühle für Philosophie etwa wurden in Ordinarien für Rassekunde, Eugenik oder auch Kriegsgeschichte umgewandelt. Und so spielt Grüttner die einzelnen Fakultäten der Reihe nach durch. Die Frage, ob es sich bei dem, was die NS-Wissenschaftspolitik implementierte, nicht von Falls zu Fall um Pseudowissenschaft handelte, liegt da geradezu in der Luft. Die aber diskutiert Grüttner nicht. Die nüchterne Betrachtungsweise, die so viel Erkenntnis möglich macht – hier gerät sie an ihre Grenze. Hätte Grüttner hier etwas mehr Handreichung gegeben, wäre es gewiss kein Fehler gewesen.
Aus den Schlussüberlegungen seien Bemerkungen in Richtung der Studentenschaft zitiert, die für Grüttner im Vergleich zu einem mehrheitlich nationalsozialistisch angepassten Lehrkörper als zu stark prägend geschildert wird. Auch weist er darauf hin, dass als frühe Folge der Diktatur bereits in den 1930er Jahren die USA die führende Rolle in der weltweiten Wissenschaft übernommen haben, dass sie diese Rolle in den 1940er Jahren deutlich ausbauten und dass dieser Zustand sich bis dato nicht grundlegend gewandelt hat.
Im Licht der erfolgten Gesamtlektüre nun nochmals zum Epilog. Die klare Darlegung der Nachgeschichte der Mesalliance zwischen Talar und Braunhemd wirkt nun nochmals relevanter. Ein bemerkenswert umfangreicher Anhang wird ergänzt durch vorbildlich strukturierte, sehr weiterführende Anmerkungen, eine akribisch angelegte Literaturliste und ein großes Personenregister sowie ein knappes, aber gutes Ortsregister insgesamt perfekt ergänzt, ja, vervollkommnet.
Die graphische Gestaltung ist, dazu passend, wohltuend schlicht. Der Band hat das Format, das großen Werken mit Langzeitwirkung gut zu Gesicht steht. Der Schutzumschlag überzeugt mit einem Bild, das die Relevanz des Themas gut darstellt. Auf Gender-Abenteuer wurde bei der Textgestaltung verzichtet; nur ganz nebenbei sei angemerkt, daß es immer nobel wirkt, wenn nach alter Väter Sitte die Zahlen von eins bis zwölf (sic!) ausgeschrieben werden – insgesamt aber ist der Eindruck frisch, aktuell, zeitlos. Einen Bildteil sucht man im Buch selbst dann vergebens, aber der Grund dafür ist schnell gefunden. Soll man viele Professoren abbilden, die den Hitlergruß zeigen? Hakenkreuzfahnen an Unibibliotheken? Nein. Die Bilderlosigkeit scheint gewollt, und gerade, wenn dem so ist.
Der Topos „opus magnum“ wird öfter bemüht – manchmal sind die so gewählte Begriffe dann doch ein paar Nummern zu groß. Hier aber ist die Sache anders. Dieses Buch liest sich in seinem leichtfüßigen, immer an den Fakten bleibenden und dennoch den großem Überblick nie außer Acht lassenden Duktus ganz flüssig, alles scheint genau zu passen. Eine solche Schlüssigkeit ist das Ergebnis jahrzehntelanger Recherchen und großen Wissens. Mit „Talar und Hakenkreuz“ hat Grüttner nicht weniger als die Summe eines Lebenswerkes vorgelegt.
Sebastian Sigler
Michael Grüttner, Talar und Hakenkreuz, München 2024, Hardcover mit SU, 704 Seiten, Lesefaden, ISBN 978-3-406-81342-9, 44 Euro.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Tabula Rasa Magazin.