„Lob der Kalkleiste und allerlei zum Schmunzeln über ihre Träger“ – so nennt Winfried Henze sein neues Buch. Und wer sofort weiß, was hier mit „Kalkleiste“ bezeichnet ist, der wird umso fröhlicher in die Lektüre einsteigen. Zusätzlich mag motivieren, daß der Autor, in Studientagen aktiv beim K.St.V. Winfridia zu Göttingen und beim K.St.V. Cheruskia Braunschweig, auch ernsthafte theologische Themen anreißt, wie er selbst auf der Titelseite des kleinen, aber feinen Buches andeutet. Dort steht: „Dazu einiges, was einem beim Nachdenken über längst vergangene Zeiten so alles einfallen kann“.
Kaum zu glauben. 95 Lebensjahre, siebzig Priesterjahre – und noch immer im aktiven Dienst im Pastoralteam des Borsumer Kaspels, eines historischen Kirchspiels im Hildesheimer Stiftsgebiet: Pastor Winfried Henze. Am 21. Juli 2024 wurde das besondere Jubiläum gefeiert – mit einem Dorffest für die ganze Gemeinde, so wie es sich der Jubilar gewünscht hatte. Musikalisch gestaltet wurde der Festnachmittag durch den Musikverein Egenstedt, den Henze als Dorfpfarrer selbst gegründet hat – und für den er einst eigens das Trompetespielen erlernte.
Es ist ein besonderes Priesterleben, das Henze im Bistum Hildesheim vorgelebt hat. Die Grußworte des Tages machten es überdeutlich. Priesterweihe 1954, dann Kaplansjahre in Braunschweig, Bremen und Hildesheim, fünfzehn Jahre Landpastor, einundzwanzig Jahre Basilikapfarrer an St. Godehard in Hildesheim, schließlich seit 2003 wieder Landgeistlicher in Adlum. Durch seine schnörkellose, unprätentiöse Art werde der Jubilar – wie der Borsumer Pfarrer, Roland Baule, in seiner Festpredigt sagte – als gesuchter Seelsorger und verlässlicher Begleiter in Lebens- und Trauerkrisen geschätzt.
Doch es gibt noch eine andere Seite: Henzes Wirkungskreis sprengte jede Pfarrstelle. Als Redakteur der Kirchenzeitung wurde er zum ökumenischen Wegbereiter im Bistum Hildesheim, blieb dabei aber stets „kernkatholisch und kernig katholisch“, so Baule. Auslandsreportagen führten ihn nach Afrika und Lateinamerika, er gewann zweimal den Journalistenpreis der Deutschen Bischofskonferenz, unter anderem für Interviews mit afrikanischen Rebellenführern. Der passionierte Segelflieger wirkte als Meisterschaftsseelsorger, war ein geschätzter Interviewpartner im Radio, rettete geradezu auf Don-Camillo-Manier den kulturhistorisch unschätzbaren Albanipsalter aus diplomatischen Verwicklungen, kurz bevor er in fremde Hände geriet, und erregte immer wieder öffentliche Aufmerksamkeit, wenn er sich mit deutlichen Worten in politische Debatten einmischte, etwa um die Bremer Verfassung oder die zahlreichen Kirchenschließungen im Bistum Hildesheim.
Henzes Sprachkraft und Geistesschärfe haben bis heute nichts an Kraft verloren. Er schrieb zahlreiche Bücher, am bekanntesten sein Katechismus „Glauben ist schön“, der neun Auflagen erlebte und mit rund dreihunderttausend Exemplaren zum Bestseller wurde. Und nun das humorvolle „Lob der Kalkleiste“, der Titel dabei eine Anspielung auf den weißen Kragen der Priester. Dabei geht es zum Beispiel um Kinder, die ihre Sicht auf die hohe Geistlichkeit ganz ohne falsche Scheu auf den Punkt bringen – „nicht immer zum Vergnügen der geistlichen Herren“, wie es im Untertitel des Kapitels heißt. Erstaunlich, wie oft Kinder das Treffende besser auf den Punkt bringen als Erwachsene. So antwortete ein Junge auf die Frage des Priesters während der Kinderpredigt, warum dieser während der Messe immer so feierliche Gewänder trage, ganz direkt: „Damit er darunter verschwindet!“. Stirnrunzeln in der Gemeinde – aber: Der Junge hat Recht. „Der Priester steht am Alter nicht für sich selbst, sondern an Christi Stelle. Er muss wissen, dass seine eigene Person ganz hinter diesem Auftrag zurücktritt“ (S. 30).
Geprägt wurde Henze, der in Göttingen aufs Gymnasium ging, durch den bodenständigen, aber auch widerständigen Katholizismus der Hildesheimer Bördedörfer, wo er seine Ferien verbrachte: Erfahrungen, die er in seiner Erzählung „Bördejahre“ verarbeitet hat. Ein Kapitel daraus hat auszugsweise auch im neuen Bändchen Eingang gefunden: Weihrauch und morscher Deckel. Ein unfreiwillig komischer Auftritt des Dorfpolizisten wird zur Gelegenheit, Treue zum Bischof und damit zugleich Widerstand gegen die braunen Machthaber zu demonstrieren. Dass Henze auch Selbstironie gegenüber seinem eigenen Stand aufbringt, macht eine – bisher unveröffentlichte – Rede vor dem Hildesheimer Priesterrat deutlich, gehalten außerhalb der Tagesordnung, „als Spannung (oder auch Langeweile) überhandzunehmen drohten“ (S. 35) und sich wieder einmal die Gemüter über Sinn oder Unsinn von Kirchenreformen erhitzten.
Henze schlägt aber auch ernste Töne an, wenn er im Eingangskapitel angesichts klerikaler Missbrauchsskandale fragt: „Ist ein harmloses Erzählen, wie in den Zeiten von Don Camillo und Peppone überhaupt noch angebracht?“ Ja, gerade deshalb, gibt unser Autor zur Antwort: „Niemals darf man Träger eines hohen Amtes und großer Verantwortung in einen Nebel der Unantastbarkeit hüllen, der genaues Hinsehen verhindert und Unterwürfigkeit erzeugt, im Staat darf man das nicht, beim Sport nicht, in der Publizistik nicht und am wenigsten in der Kirche“ (S. 9). Falschem Respekt lässt sich aber womöglich weniger durch synodale Funktionärskämpfe gegen klerikale Machtstrukturen entgegentreten, wie Henze bemerkt – sondern „oft viel besser, wenn man in den autoritären Nebel hineinpustet und von hohen Herren Geschichten erzählt, die menschliche Schwächen aufdecken“ (S. 10). Hier zeigt er sich wieder: der „kernkatholische und kernig-katholische“ Stil des Autors. Man darf annehmen, dass er ein solches Programm auch als Couleurstudent gelernt und verinnerlicht haben mag.
So durfte beim Jubiläum im Sommer auch eine Chargenabordnung des K.St.V. Winfridia zu Göttingen, wo Henze ursprünglich erst ein Jurastudium begonnen hatte, nicht fehlen. Und passend zum eigenen Namenspatron wie dem seiner Verbindung endete die Festmesse mit dem Bonifatiuslied: „Der du das blinde Heidentum in Deutschland hast vernichtet“. Schon lange hat der Rezensent dieses Lied nicht mehr gesungen; aus dem katholischen Gesangbuch ist so viel Kampfesgeist längst verschwunden. Doch die Liedwahl war äußerst treffend. Denn der Jubilar wurde an seinem Festtag nicht zu Unrecht als streitbarer Demokrat gewürdigt, dem die Liebe zu Volk und Vaterland am Herzen liegt und der keine falsche Angst vor Fürstenthronen kennt, wenn es gilt, die grundlegenden Orientierungswerte unseres Landes zu verteidigen.
Auch im „Lob der Kalkleiste“ macht Henze aus seiner Verbindungszugehörigkeit keinen Hehl. Unter dem Schlachtruf „Nach Canossa gehen wir nicht!“ nimmt er die Leser mit an antirömische Wallfahrtsorte in Deutschlands Norden. Heute könne darüber mit der notwendigen Gelassenheit, vielleicht sogar Erheiterung gesprochen werden: „Ach Freunde, was sinkt doch alles dahin im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte! Wieviel Zorn verraucht, wieviel Erinnerung wird schal! Georg und Heinricht, Bismarck und Leo, Hermann und Varus, Tilly und Gustav Adolf“ (S. 66). Die Reise beginnt an der Bad Harzburger Canossasäule, welcher die Katholiken trotzig eine dem heiligen Gregor VII. geweihte Kirche entgegensetzten, und führt über das Hermannsdenkmal und das Schlachtfeld des Dreißigjährigen Krieges bei Lutter am Barenberge bis zu den Sachsensteinen in Verden.
Benannten die Protestanten ihr Diasporahilfswerk nach dem Schwedenkönig, der im Dreißigjährigen Krieg kräftig mitmischte, versagten sich die Katholiken glücklicherweise einer ähnlichen Retourkutsche. Ausgerechnet Ignaz Döllinger, geistiger Vater der deutschen Altkatholiken, riet dazu, nicht Graf von Tilly, dem bis heute in Altötting gehuldigt wird, sondern den Apostel der Deutschen als Namensgeber des Bonifatiusvereins der deutschen Katholiken dagegen zu setzen. So machten es dann auch die katholischen Studenten, als sie 1870 in Göttingen die erste katholische Verbindung gründeten. Die Axt, mit der Bonifatius den germanischen Götterhimmel entthronte, ziert noch heute das Wappen der Göttinger Winfriden. Trotzig sangen sie im Kulturkampf, wie Henze erinnert: „Die Götter-Eichen sinken! / Die Siegeszeichen blinken! Von ferner Alp bis zu des Nordmeers Strand / erobert Winfried seinem Gott das Land.“
Ja, die Zeiten wandeln sich, wie Henze im Blick auf den heutigen Katholizismus im Lande eines Hermann und Bonifatius bemerkt: „Vielleicht empfindet es heute auch mancher katholische Amtsträger als peinlich, dass dieser Bonifatius die Donareiche einfach umgehackt hat, statt in einen Dialog auf Augenhöhe mit den alten Germanen einzutreten und um die Erlaubnis zu bitten, in gebührendem Abstand eine römische Zypresse daneben pflanzen zu dürfen.“ Etwas mehr Stolz auf die eigene Tradition, die eigene Geschichte und die eigene Identität täten unserem Land und seiner Kirche in der Tat nicht schlecht. Gerade unsere Verbindungen sollten in diesem Sinne ihre Prunkfahnen hochhängen – und nicht in den Wind, wie so viele Kirchenvertreter es gern tun.
Der Festprediger wies bei der Jubiläumsfeier im Sommer darauf hin, wie stark sich Gesellschaft und Kirche unter den sieben Päpsten, die der Jubilar in seinem Priesterleben erlebt habe, verändert hätten. Hoffnungslosigkeit sei darauf die falsche Antwort, doch müsse die Kirche winterfest werden – in der Sprache der Bördedörfer: Sie müsse „Winterweizen aussäen“. Henze sah seine Berufung immer darin, Pastor – und nicht Pfarrer – zu sein: Hirte, verankert im Dorfleben, die Familien begleitend. Ein Pastor, so sagte er einmal, sollte in jedem Verein seines Dorfes Mitglied sein, außer im Frauenkreis. „Glaube ist schön“ ist nicht nur ein Buchtitel von ihm. Henze lebt die Freude seiner Berufung. Das wird auch im vorliegenden Bändchen deutlich.
P.S.: Und wem das alles zu katholisch ist, mag sich mit dem Schlusskapitel trösten, das Henze dem Hannoveraner Landesbischof Hanns Lilje widmet. Kein geringerer als Papst Pius XII. soll auf die Frage, wer unter Deutschlands Bischöfen der bedeutendste sei, diesen Namen genannt haben.
Axel Bernd Kunze, LB! Alemannia zu Bamberg, B! Rheno-Germania Bonn, B! Alemannia Leipzig
Henze, Winfreid, Lob der „Kalkleiste“ und allerlei zum Schmunzeln über ihre Träger. Dazu einiges, was einem beim Nachdenken über längst vergangene Zeiten so alles einfallen kann, mit Illustrationen von Claudia Gabriele Meinicke, Hildesheim 2024, 80 Seiten, ISBN 978-3-947066-95-7; 8,95 Euro.