Studentenhistoriker blicken in die die europäische Geschichte. Auf eine Katastrophe, einen Kulturbruch, der vor genau 100 Jahren begann – in Kleinasien. Die weltoffene, multireligiöse Metropole Smyrna, eine zutiefst griechisch geprägte Stadt mit 700.000 Einwohnern, wurde zur Feuerhölle, angefacht von türkischen Soldaten und ihren zivilen, moslemischen Helfern. Das gesamte, 3.000 Jahre alte kleinasiatische Griechentum, die Kultur Trojas, Didymas, Ephesos‘ – gewaltsam ausgerottet. Lutz C. Kleveman hat jetzt ein bemerkenswertes Buch über den Brand von Smyrna vorgelegt.
Wo heute das sehr wenig historisch aussehende, mit Betonbauten gespickte, strikt moslemisch geführte und rein türkisch besiedelte Izmir liegt, war einst eine wundervolle Metropole der Humanität und der Toleranz: Smyrna. Die ägäische Hafenstadt war vom Ersten Weltkrieg verschont geblieben. Türken, Griechen, Armenier hatten eigene Stadtviertel, bei Europäern mancherlei Nationalität war die kulturell vielfarbige Metropole höchst beliebt als das „Paris Kleinasiens“. Generell hatte ja ohnehin das ionische Griechenland, in Kleinasien beheimatet, seinen bedeutenden, festen Platz in der europäischen Kulturgeschichte. Troja, Ephesos, Didyma und eben Smyrna trugen die bedeutende hellenische Antike in die Gegenwart. Dies alles war Mustafa Kemal Pascha „Atatürk“ ein Greuel. Er wollte einen durchweg türkischen, rassisch reinen Staat errichten – koste es, was es wolle. Die Geschichte der Türkei und der Atatürk-Nachfolger beweist es. Gerade heutzutage.
Smyrna wurde mit Vorbedacht und sehr gezielt durch eine exakt geplante und am 13. September 1922 gelegte Feuersbrunst zerstört, die tagelang wütete und deren Rauchsäule bis Konstantinopel, von den moslemischen Eroberern Instanbul genannt, zu sehen war. Im griechischen Smyrna waren türkische Soldaten und ihre zivilen moslemischen Helfer die Brandstifter. Einen militärischen Anlaß gab es nicht; das zwischenmenschliche Klima in der Stadt war bis zu diesem Tag trotz des immer radikaler moslemisch ausgerichteten jungtürkischen Regimes im Osmanischen Reich immer weltoffen und multikulturell geblieben. Die Stadt galt damit den jungtürkisch geprägten, gewaltbereiten Mohammedanern, die einen rassisch und religiös „reinen“ Staat in Kleinasien schaffen wollten, als Ort der „Giaur“, der Leugner, der Ungläubigen – kurzum als Treffpunkt derer, die sie nicht mit totalitären religiösen Normen kontrollieren konnten. Die Menschen der Kulturmetropole starben durch massenhafte Verbrennung nach Art eines biblischen Holocaustes, zudem durch Erschlagen, Erschießen und Ertränken, die türkischen Stadtviertel wurden ausgenommen. Eine Rückkehr der Einheimischen wurde mit Maschinengewehren verhindert.
Konkreter Anlaß für die totale Zerstörung durch eine gigantische Feuersbrunst und den damit seinem traurigen Höhepunkt zutreibenden Völkermord an diesen an den Ufer des ägäischen Meeres lebenden Griechen war der türkisch-griechischen Krieg, der als Fortsetzung des 1918 keinesfalls beendeten Ersten Weltkriegs verstanden werden muß. Die blutige Vertreibung der seit drei Jahrtausenden in Kleinasien angestammten Griechen wird gerne als „Bevölkerungsaustausch“ bemäntelt – ein menschenverachtender Topos, denn sowohl Türken als auch die Christen mancherlei Nationalität litten enorm. Die geschätzten Opferzahlen auf christlicher Seite sind im übrigen bis zu 40 mal höher.
Doch in Wirklichkeit war auch das gigantische Mordbrennen von Smyrna, das die Türken danach „Izmir“ nennen sollten, nur ein schrecklicher Meilenstein. Es ging um eine ethnische und vor allem religiöse Vereinheitlichung Kleinasiens in größtem Maßstab, wie der Völkermord der Türken an den Armeniern beweist. Smyrna war die Fortsetzung dieses Völkermords, und auch christliche Aramäer wie muslimische – aber nicht der „richtigen“ Rechtsschule folgende – Kurden waren betroffen, dazu kommt die Vertreibung und Zwangsislamisierung der Pontos-Griechen. Scheinbar als Kriegsfolge mussten schließlich fast zwei Millionen Christen und viele Muslime aus ihrer Heimat fliehen.
Leider starben auch Türken durch griechische Hand. Aber systematisch ermordet, vertrieben und unter Morddrohung muslimisiert wurden ausschließlich Christen, sie sind die zahlenmäßig mit weitem Abstand größte Gruppe unter den Todesopfern. Smyrna kommt in diesem entsetzlichen Morden eine besondere Bedeutung zu. Nach dem türkischen Völkermord an den Armeniern diente das massenhafte Verbrennen von Menschen in dieser griechischen Metropole als zweite Blaupause für die Massenmorde des 20. Jahrhunderts, die noch folgen sollten, vor allem im russischen und im deutschen Namen. Soviel vorweg.
Nun zum Buch von Lutz C. Kleveman. Auf Seite 269 steht zu lesen, als wie präsent er den Völkermord an den Griechen in Smyrna immer noch empfindet: „Es war noch früher Morgen, die Luft herbstlich kühl. Ich ging am Quai entlang, der heute Kordon heißt. In einer Stadt namens Smyrna, die heute Izmir heißt. (…) Wellen schlugen an die Kaimuaer, prallten zurück und schwappten übereinander her. Kleine aufgebrachte Wellen, die mir wir ruhelose Seelen vorkamen. Seelen, die immer noch ertranken.“
Um das Grauen eines Völkermordes zu schildern, es in seiner Absolutheit herauszuarbeiten, ist es nötig, das Umfeld zu schildern. Den hoffnungsvollen, brüchigen Frieden zuvor ebenso wie die Friedhofsruhe danach – sei es in einem Exil, sei es am Ort des grausigen Geschehens. Dieses Buch ist ein gutes Beispiel dafür, wie das gelingen kann. Es steht in einer Reihe mit der bedeutenden biographischen Erzählung „Die Hunde vom Ararat“ von Peter Balakian, in der die Wirkung des Völkermordes der Türken an den Armeniern durch einen clever und überlegt eingeschobenen Sachtext geschildert wird.
Eine Reiseerzählung wie die hier vorliegende, in der sich Lutz C. Kleveman dem Völkermord der mordlustigen Türken an den Pontos-Griechen Schritt für Schritt nähert, ist eine probate Herangehensweise, die funktioniert. Auch bei ihm steht dann ein Sachtext, wissenschaftlich exakt, im Zentrum des Buches. Im Prolog bereits, der in Athen spielt, läßt Kleveman in einem knappen Dialog die Problemstellung aufblitzen: „Vielleicht war Smyrna die erste wirklich globale Stadt. – Bis man sie niedergebrannt hat.“ Sodann nimmt er die Leser mit auf die Insel Chios. Das ist zunächst etwas überraschend, aber doch völlig schlüssig und logisch, um die Genese des Problems darzulegen, dessen schlimmste Folge letztlich der Brand von Smyrna sein sollte. Auf Chios jedenfalls fand vor 200 Jahren ein riesiges Massaker von Moslems an Christen statt, damals noch alles unter der Regentschaft des Sultans in Konstantinopel, das seit der gewaltsamen Eroberung durch Sultan Mehmed II. Istanbul genannt wird. Und mit dem Kapitel „Verbrannte Erde“ führt Kleveman die Leser dann endlich ins heutige Izmir, den eigentlichen Schauplatz des Buches – ins historische Smyrna.
„Jeden Tag war ich Zeuge des grauenvollen Schauspiels, wie Flüchtlinge sich durch das halb geöffnete Tor zum Kai hinausdrängten … Die sich durch den Durchlass gequält hatten – an jeder Sperre gepeitscht, getreten, systematisch ausgeraubt – gelangten an die Schiffstreppe in einem Zustand völligen Nervenzusammenbruchs … Männer im dienstpflichtigen Alter war die Ausreise nicht gestattet … So wurden Söhne von ihren Müttern losgerissen, Männer von Weib und Kind … Überall lagen Tote und Sterbende.“
Clare Sheridan, britische Journalistin, eine Cousine Winston Churchills, im September 1922 zu Recherchen in Smyrna anwesend
Die Ereignisse entfaltet Kleveman gekonnt, er beginnt 1907. Sehr gut fassbar sind die Personen, er wählt zudem unterschiedliche Schauplätze – Langweile ist nicht zu befürchten! Unterbrochen wird seine große historische Schilderung von zwei aktuellen Kapiteln, „Interludium“ und „Nationale Ideen“. Danach widmet er sich der Fortsetzung der historischen Ereignisse, wobei dem verblüfften Rezensenten auffällt, daß doch tatsächlich im Inhaltsverzeichnis zwei Seitenzahlen falsch sind – die auf den Seiten 213 und 238 beginnenden Kapitel sind zehn Seiten zu früh annonciert. Hat der umpaginierte, zehn Seiten starke Bildteil, kurz davor und mutmaßlich kurz vor Druck eingefügt, der Herstellungsabteilung einen Streich gespielt? Wie dem auch sei – derlei Schlamperei sieht man selten bei angesehenen Verlagen.
Ein paar Seitenzahlen können indes nicht irritieren. Die Fakten sind schlichtweg niederschmetternd. Eine halbe Million Christen – Griechen, Armenier, Flüchtlinge aus mancherlei Ländern – drängten sich entlang der Kaianlagen des Hafens, nachdem das Feuer durch ausgeleerte Benzinfässer erst richtig entfacht war. „Ein seitwärtiges Entkommen war ausgeschlossen, weil die Türken im Norden wie im Süden der Wasserfront Maschinengewehre aufgestellt hatten. Parallel zum Kai war eine undurchdringliche Feuerfront“, so der Historiker Heinz A. Richter.Die Schilderung, die Kleveman liefert, ist bestechend in ihrer Klarheit und ihrer düsteren Objektivität. Sie liest sich herunter wie ein Krimi, und am Ende sind auch nicht nur die moslemischen Mordbrenner und Menschenschlächter, die als Bestien dastehen, sondern ebenso die grundlegend versagenden Westmächte, die in Smyrna engagierten US-Konzerne und auch die griechische Regierung in Athen. Umso berührender das Denkmal der Menschlichkeit, das Klevemans dem US-amerikanischen Pastor Asa Jennings setzt. Er war ein Held der Menschlichkeit in einem Ozean aus Blut. Allein durch die Schilderung seiner Tat hätte sich die Lektüre dieses Buches bereits gelohnt!
Der Brand von Smyrna und der gleichzeitige, hunderttausendfache Mord an Griechen und Christen anderer Konfessionen ist ein welthistorisches Ereignis, mit dem „der Genozid an den Armeniern im Jahre 1915 sieben Jahre später in Smyrna seine Fortsetzung fand“. So zumindest befindet Dora Sakayan, die Enkelin von Garabed Hatscherian, jenem Arzt, dessen Tagebuch heute die wohl wichtigste Primärquelle zum Holocaust von Smyrna aus Opfersicht ist. Das Wort Holocaust ist hier, Hannah Arendt folgend, im Sinne seiner etymologischen Bedeutung verwandt, nämlich als „völlige Verbrennung von Menschen“. Philip Blom schreibt resümierend auf den Seiten des Aufbau-Verlages: „Lutz C. Kleveman reiste ein Jahr lang auf die griechischen Inseln und nach Izmir – über Grenzen und durch die Zeit. Dabei entdeckt er das historische Smyrna wieder, wo Griechen, Türken, Juden, Armenier, Europäer und Amerikaner einst friedlich zusammenlebten. Er lässt die kosmopolitische Metropole erzählerisch auferstehen und uns verstehen, wie es zur Katastrophe von 1922 kommen konnte. Einer Katastrophe, die Europa für immer verändern sollte.“
Äußerer Anlaß für die Katastrophe von Smyrna war ein griechisch-türkischer Krieg, der als Fortsetzung des nur teilweise, nur scheinbar beendeten Ersten Weltkriegs nach 1918 zu sehen ist, doch es ging in Wirklichkeit um eine generalstabsmäßige geplante Aktion der Fortsetzer des jungtürkischen Regimes. Es ging um eine rassisch reine, zu 100 Prozent moslemische Türkei. Wenn sich Atatürk betont laizistisch gab, muss dies im Feuerschein des griechischen Smyrna als Taqiyya gesehen werden. Spätere Diktatoren des 20. Jahrhunderts haben viel gelernt aus der Massenverbrennung von Menschen in Smyrna, speziell ein Deutscher Diktator, der das Vorbild Atatürk und der Jungtürken monströs vergrößerte und ein Menschheitsverbrechen ohne Vergleich initiierte. Auch heute, auch im 21. Jahrhundert gibt es in der Türkei schließlich einen Staatsführer, der selbst sich als treuen Gefolgsmann Atatürks sieht.
Ja, 2022 ist ein gefährliches Jahr für Griechenland. 1822 das Massaker von Chios, 1922 der Völkermord an den Griechen und allen gemeinsam mit ihnen im westlichen Kleinasien lebenden Christen anderer Konfessionen und an den toleranten Menschen anderer Religionsgruppen. Was kommt noch, 2022, und was dann erst 2023, zum düsteren Jahrhundertfest der heutigen Türkei, die über einem Meer aus Blut errichtet wurde? Was ist Reccep Tayyib Erdogan zuzutrauen?
Sebastian Sigler
Lutz C. Kleveman, Smyrna in Flammen – Der Untergang der osmanischen Metropole 1922 und seine Folgen für Europa, 381 Seiten, geb. mit Lesefaden, 10 Abb., ISBN 978-3-351-03459-7, 24,00 Euro.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Netzzeitung Tabula Rasa.