Am 19. Oktober 2023 ist in Graz mit Prof. Harald Seewann jener Studentenhistoriker verstorben, der dem überaus faszinierenden, aber gänzlich verschwundenen Milieu des jüdischen Korporationswesens eine Stimme gegeben, ihm sein Lebenswerk gewidmet hat. Er war der Nestor der Historiographie des jüdischen Korporationslebens. Er war einer der letzten, die mit jüdischen Korporierten, die die Schoah überlebten, gesprochen hat. Diese Überlebenden haben ihn dafür 1992 mit der Ehrenmitgliedschaft des IGUL geehrt.
Wenn im aktuellen Diskurs zur Zeitgeschichte von einem Epochenbruch die Rede ist, erleben wir ihn beonders schmerzlich mit Harald Seewanns plötzlichem Tod. Begonnen hat alles mit einer Begegnung im Graz der 1980er Jahre. Seewann, der seit 1964 der heutigen akademischen Grazer Burschenschaft „Marko-Germania“ angehörte und bereits als Mitgründer des Steiermärkischen Studentenhistoriker-Vereins in Erscheinung getreten war, suchte und fand den Kontakt zum nach Graz zurückgekehrten letzten Senior der bis 1938 in der Stadt bestehenden Jüdisch-Akademischen Verbindung „Charitas“. Der Austausch der beiden löste bei Seewann, der als Verlagskaufmann beim Regionalblatt „Kleine Zeitung“ und als Journalist tätig war, ein intensives Interesse aus, das auf einen kaum bekannten Forschungsgegenstand traf. Österreichische Archive erwiesen sich als kaum ergiebig, Funde in israelischen Sammlungen wie den Central Zionist Archives und der National Library of Israel in Jerusalem oder Beth Hatefutsoth in Tel Aviv brachten aber erste Erfolge.
Der Zeitpunkt von Seewanns Recherchen fiel in eine Zeit der europäischen Teilung, in der wichtige Sammlungen hinter dem Eisernen Vorhang lagen. Durch persönliche Interviews und umfangreiche briefliche Korrespondenzen verschaffte sich Seewann daher authentische Einblicke in das jüdische Studentenleben und die Verbindungskultur. Für den Burschenschafter Seewann bildete der Gedanke der jüdischen Nation und deren Trägerschaft innerhalb einer studentischen Bewegung naturgemäß den Anknüpfungspunkt zur eigenen Überzeugung.
Seinen aus dem buchstäblichen Nichts aufgebaute Kenntnisstand breitete Seewann in der monumentalen, fünfbändigen Reihe „Zirkel und Zionsstern. Bilder und Dokumente aus der versunkenen Welt des jüdisch-nationalen Korporationsstudententums. Ein Beitrag zur Geschichte des Zionismus auf akademischem Boden“ auf rund 2.400 Druckseiten aus. Dieses zwischen 1990 und 1996 im Eigenverlag erschienene Opus Magnum ist von geradezu einzigartiger Bedeutung und erzeugt bis heute eine Unmittelbarkeit, die über eine minutiös und akribisch zusammengestellte Sammlung von Archivquellen, Dokumenten und Presseberichten weit hinausgeht.
Eingebettet hat Seewann dieses Standwerk in eine noch größer konzipierte Publikationsserie „Historia Academica Judaica“, in der in unregelmäßiger Abfolge weitere Einzeluntersuchungen zu speziellen Hochschulorten wie dem heute ukrainischen Czernowitz oder zu einzelnen Verbindungen erschienen. Zuerst zu nennen ist hier seine mehrteilige Dokumentation zur Wiener Akademischen Verbindung „Kadimah“, dem 1882 als erste jüdische Studentenorganisation in Westeuropa begründeten „Mutterschiff des politischen Zionismus“, dessen Wirkmächtigkeit von der Person Theodor Herzls nicht zu lösen ist.
Der Verstorbene hat sich und seine Schriften primär unter dem Aspekt des Sammlers und Bewahrers begriffen, was ihm nicht genug verdankt werden kann, etwa angesichts der verbürgten Tatsache, dass über die Schoah gerettete, in israelischer Privathand befindliche bedeutende Archivalien des „Igul“, des Ringes der Alt-Herrenverbände der zionistischen Korporationen, durch desinteressierte und überforderte Nachkommen dem Altpapier überantwortet worden waren.
Seewann ist als einziger Nichtjude mit dem Dankeszipf und der Ehrenmitgliedschaft des Verbandes 1992 ausgezeichnet worden. Die Republik Österreich stellte sich mit der Verleihung des Berufstitels „Professor“ 2007, seine Geburtsstadt Graz 2016 mit der Würde eines Bürgers der Stadt Graz. In der Laudatio wurde ausgeführt: „Ihm ist es zu verdanken, dass in letzter Stunde aus noch vorhandenen Archiv-Fragmenten, aus Privatbesitz und aus den Erinnerungen der wenigen noch lebenden Zeugen ein Stück verdrängter österreichisch akademischer Geschichte rekonstruiert werden konnte.“
Ergänzt wird das Schaffen durch eine Fülle unselbständiger Veröffentlichungen in Jahrbüchern wie dem „Einst und Jetzt“ des Verbandes für corpsstudentische Geschichtsforschung oder kleinere Abhandlungen zu Aspekten der steirischen Studenten- und Grazer Hochschulgeschichte in der Reihe des Steiermärkischen Studentenhistoriker-Vereins, der Seewann 2021 zum Ehrenmitglied ernannte.
In den letzten Jahren, die von gesundheitlichen Problemen überschattet waren, fokussierte Seewann seine publizistischen, wie immer im Eigenverlag und ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Fördermittel umgesetzten publizistischen Aktivitäten auf die Entwicklung einzelner Verbindungen überwiegend des zionistischen, aber auch deutsch-freiheitlichen Lagers wie die Wiener Burschenschaft „Budovisia“, die durch die Mitgliedschaft zweier Onkel des sozialdemokratischen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky einige Beachtung genießt.
Mit Harald Seewann endet nicht nur die Ära der Zeitzeugenschaft, sondern auch die Reihe jener großen studentenhistorischen Persönlichkeiten, die ein Forschungsfeld gewissermaßen im Alleingang bewältigt oder, wie in seinem Fall, erst fruchtbar gemacht haben. Alle Folgenden, die sich dem jüdisch-nationalen Korporationswesen als eines ganz bedeutenden Kapitels der Vorläufergeschichte der israelischen Staatswerdung widmen, sind bei eigenen Arbeiten auf seine Quellen- und Erschließungsarbeit geradezu angewiesen. Der Verfasser dieser Zeilen bildet hier keine Ausnahme und hat der vornehmen Hilfsbereitschaft des Verstorbenen sehr viel zu verdanken. Es ist das Vermächtnis und Verdienst des Forschers und Farbstudenten Harald Seewann, durch sein Jahrzehnte langes Wirken eine belastbare Plattform für weitere Einzeluntersuchungen hinterlassen zu haben.
Gregor Gatscher-Riedl