Eine Weltstadt im östlichen Europa, mit direkter Anbindung nach Westen, angefüllt mit Schätzen der Baukunst, vor allem des Barock – das ist das historische Lemberg. Unbeschadet aller Kriegsgefahr ist das heutige Lemberg eine Reise wert, gerade für Studentenhistoriker. Ein reiches Erbe jüdischer Verbindungen wartet, entdeckt und erforscht zu werden. Auch drei Corps gab es: Austria, Gothia und Alemannia.
Greogor Gatscher-Riedl hat einen wundervollen Band über Lemberg fabirziert, in dem wohldurchdachte Texte mit einer opulenten Bilderpracht, die ihresgleichen sucht, kombiniert werden. Er beginnt mit einer Schilderung der Stadtgeschichte, kompakt aufgearbeitet, knapp 40 Seiten umfassend. Bereits hier fällt die gute Bebilderung auf. Wahrlich eine Metropole war Lemberg, die „Stadt des Löwen“, dessen stilisiertes Abbild uns bereits im Frontispiz des Buches ganz dezent begegnet. Lemberg war die Perle im Osten der k.u.k.-Monarchie, solange diese bestand. Nach einer Zwischenkriegsepoche, in der die Stadt zur Zweiten Polnischen Republik gehörte, fiel sie unter Sowjetherrschaft. Doch ein Gutteil der alten Pracht hat die finsteren Zeiten des Kommunismus überdauert.
Heute, in der Ukraine, hat die Stadt alle Chancen, wieder ganz zu erblühen, falls Putins Raketen sie verschonen. Doch wer eine Metropole erfassen und verstehen möchte, muß ihre Kathedrale studieren. Eine einzigartige Fusion aus Ost- und Westkirche stellt die Lemberger byzantinische St-Georgs-Kathedrale dar. Gleich die erste Einzeldarstellung seines Lemberg-Bandes widmet Gatscher-Riedl diesem Bau, damit setzt er ein ausgezeichnet plaziertes Zeichen. Sodann widmet er sich der römisch-katholischen Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale. Unter einer ganzen Reihe weiterer Kirchen, die gewürdigt werden, sei noch die baulich höchst bemerkenswerte armenische Kathedrale hervorgehoben – Lemberg als „das vierte Rom“? So ist das zweite Kapitel in Gatscher-Riedls Lemberg-Band übertitelt. Mit gutem Grund!
Ein Kapitel über das höchst bedeutende Lemberger Judentum schließt sich an, und von dort aus führt der Autor seine Leser direkt ins gelehrte, ins akademische Lemberg. Die jüdischen Studentenverbindungen bekommen eine eigene Doppelseite, auch alle übrigen Korporationen finden Erwähnung, denn erholsamerweise finden sich in diesem Band die Studenten mit ihren bunten Bändern und Mützen durchaus wieder – nicht im Mittelpunkt des städtischen Lebens, aber doch zweifelsfrei lebendig und vorhanden.

Im Band 65 des Jahrbuches „Einst und Jetzt“ schreibt Gatscher-Riedl dazu: „Auch Verbindungen gab es in Lemberg. Das älteste Corps war die mehr oder weniger uno actu mit der Universität am 17. Oktober 1875 gestiftete Austria mit den Farben Schwarz-Gold-Schwarz. Ihr folgte am 14. Juni 1876 die grün-weiß-goldene und grünbemützte Gothia. Das dritte Corps am Ort war Alemannia, gestiftet am 13. Mai 1877 mit schwarz-blau-goldenen Bändern und blauen Couleurs. Alle drei Corps waren Mitglied im Congress der österreichischen Corps, dem Melker Senioren-Convent.“
Ein weiterer studentenhistorischer Exkurs sei gestattet. Während nämlich die jüdischen Verbindungen ordentlich prosperierten, erreichten die Corps nie wirklich große Aktivenzahlen. Das hatte einen Grund, den Gatscher-Riedl am angegebenen Ort schildert: „Papst Clemens XIII. erteilte schließlich 1759 die Approbation für die Hochschule, womit den verliehenen Graden vom Bakkalaureus bis zum Doktor die kirchliche Anerkennung zuteil wurde. (…) Kaiser Joseph II. (dekretierte) am 21. Oktober 1784 die Gründung einer Volluniversität mit vier Fakultäten, der das aufgelassene Trinitarierkloster in der Krakauer Straße zugewiesen wurde. In der Konventskirche wurden die bald 40.000 Bände der Universitätsbibliothek untergebracht.

Die Vorlesungen waren in latei-nischer Sprache zu halten, mit Deutsch und Polnisch als zulässigen Hilfssprachen. (…) Der Vorlesungs-betrieb an der Lemberger Univer-sität, an der um 1870 rund 52 Pro-zent der Studenten zur polnischen, 42 Prozent zur ukrainischen und sechs Prozent zur deutschen Sprachgruppe gezählt wurden, wurde ab dem Wintersemester 1871/72 von Deutsch auf Polnisch umgestellt. Damit reduzierte sich die Reichweite des Hochschulstand-orts fast ausschließlich auf die galizische Bevölkerung.“
Komen wir zurück zur Rezension. Die übrigen Kapitel dieses Lemberg-Bandes sind höchst interessant, teils amüsant, immer äußerst anschaulich durch ihre wirklich exzellente Bebilderung. Sie seien hier nur in Stichworten angerissen. Da ist dieses weltstädtische Stadtbild, das mit einer Altstadt voller enger Gassen einen reizvollen Kontrast bildet. Da ist dieser selbstverständliche internationale Blick, der von Wien bis Odessa reichte. Wer eine interkontinentale Reise plante, und das taten Viele, der buchte seine Schiffspassage ab Triest oder Odessa.
Und erst der Fortschritt! Das erste Straßenbahnnetz der Donaumonarchie wurde in Lemberg verlegt, elektrische Straßenbeleuchtungen gab es ebenso. Wen wundert es da, dass die Bilder aus der k.u.k.-Monarchie auch im Falle Lembergs aus heutiger Sicht wie ein verlorenes Paradies anmuten? Unter polnischer Herrschaft tat sich nicht mehr viel, und der Kommunismus hat danach quasi jeden Fortschritt blockiert, wie ein Pfropfen saß er auf der Stadtgeschichte. Manches wurde in beschädigten Zustand konserviert, enorm viel zerstört – weil Kommunisten die erklärten Zerstörer alles Schönen sind.

Doch die Auflösung von Gegensätzen ist das inoffizielle Motto der heute knapp eine dreiviertel Million Ein-wohner zählenden Metropole. Hier, an der Schnittstelle von West- und Ost-europa, sind Richtungs- und Regie-rungswechsel möglich gewesen. Quasi symbolisch steht der Hauptbahn-hof, der einst als anerkannt schönster in der gesamten Donaumonarchie galt, exakt auf der Wasserscheide zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee. Galizien, die umgebende Landschaft, war ohnehin für ein vielfältiges Mitein-ander bekannt, bevor der Sozialismus in seiner schrecklichsten Ausprägung – als Nationalsozialismus – und dann der Kommunismus ihr Zerstörungswerk begannen.
Aber es ist noch da, das historische Lemberg, trotz Kommunismus, trotz Putin. Der UNESCO ist das den Titel „Weltkulturerbe“ wert. Und in diesem handlichen, kompakten Band wird exakt beschrieben, warum. Ein überzeugendes, stimmiges und wegen der Bedrohung durch den Ukraine-Krieg höchst aktuelles Werk ist Gregor Gatscher-Riedl gelungen. Auch im vierten Jahr nach seinem Erscheinen hat es kein bisschen von seiner Aktualität und Relevanz eingebüßt. Hier ist der Beleg – Lemberg ist integraler Teil des europäischen Kulturraumes, gewissermaßen seine Mitte markierend. Unser Urteil: äußerst lesenwert!
Sebastian Sigler
Gregor Gatscher-Riedl: Lemberg – k. u. k. Sehnsuchtsort und Weltstadt in Galizien, Berndorf 2019, 2. Aufl. 2020, 300 Seiten, Hardcover mit SU, durchgehend reich bebildert, ISBN-13: 978-3-99024-777-8, 29,90 Euro.