J.A.V. Unitas Wien: Akademische Bürger, Zion fest im Blick

Unter den jüdischen Verbindungen nimmt die Unitas eine besondere Rolle ein. Sie war die drittälteste, und aus ihren Reihen kamen einige äußerst prominente Europäer. Der Gedenkband für die Wiener Uniten ist das letzte Werk, das Professor Harald Seewann, der Grazer Studentenhistoriker, vorlegen konnte. Auf 391 Seiten hat er dokumentiert, was nach Shoah, Mord und Vertreibung noch verfügbar ist. Erstaunlich, welch enorme Fülle an Quellen er gefunden hat.

Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben des Studentenhistorikers, Zeitzeugen zu befragen, ihr Wissen direkt zu erfragen, es für die Nachwelt zu dokumentieren, abrufbar zu machen. Nichts anderes erleben die dankbaren Kollegen bei Professor Seewann, Graz. Diesmal ist es die drittälteste jüdische Verbindung Wiens, die J.A.V. Unitas, deren Regesten und Schriftzeugnisse er auswertet und präsentiert. Schon zu Beginn stehen die Namen der Uniten über Briefbögen oder in Unterschriften, die Leser nehmen teil an der Suche, nehmen die Erinnerungen quasi im Originaltext mit.

Einer der profiliertesten, fleißigsten und wissensreichsten Studentenhistoriker lebt nicht mehr. Fassungslos nehmen wir Abschied von Professor Harald Seewann, dem Bewahrer des Erbes der jüdischen Verbindungen. Wir trauern mit der Witwe, wir trauern um den letzten Bandträger des IGUL, des Altherrenringes der alten Jüdischen Verbindungen. Ein mit unglaublich viel Wissen zusammengetragenes Werk über die J.A.V. Unitas Wien ist nun sein Schwanengesang geworden. Mit unserer Rezension ehren wir einen der Großen der Unsrigen. Fiducit, Harald Seewann!

Prominenter Zionist, erfolgreicher Romancier, begeisterter Unite: Arthur Koestler

Höchst aufschlussreich ist die Liste der Mitglieder der J.A.V. Unitas Wien. Sie findet sich auf den Seiten 53 bis 57 – eine wichtige Quelle und Orientierung. Nicht nur, dass anhand der mit angegebenen Berufe ein guter Einblick möglich wird in die Sozialstruktur der Wiener Stadtgesellschaft in der späten Habsburgerzeit. Prominente Namen scheinen auf. Der Verleger Lord Weidenfeld, der später von London aus zu Ruhm und Ehre kam. Der Romancier und Journalist Arthur Koestler, der direkt nach seiner Aktivenzeit als glühender Zionist nach Palästina auswanderte. Auch der Vater des politischen Zionismus, Theodor Herzl, ist höchstpersönlich dabei – und schließlich Zew Jabotinski, der wohl wichtigste militärische Vorkämpfer eines Staates Israel. Nach dem Abzug der Osmanen, nach Zusammenbruch des jungtürkischen Regimes, das auch den Holcuast an den Armeniern verübt hatte, war er Mitgründer der Haganah, also der Untergrundarmee, die die Gründung Israels militärisch vorantrieb. Wobei Jabotinski durchaus als typischer Unite gelten kann, wurde bei der J.A.V. Unitas doch sehr fleißig gefochten. Auf Säbel, wohlgemerkt! Wolfgang v. Weisl ist ebenfalls vertreten, last but not least, er war als Arzt wie als Weltreisender legendär. Ein weiter Horizont der Geschichte des 20. Jahrhunderts, von den galizischen Stetl über Palästina bis hin nach London und New York, öffnet sich anhand der Quellen aus den Reihen dieser jüdischen, akademischen Verbindung aus neuem Blickwinkel. Höchst interessant wäre diese umfassende Dokumentation von Professor Seewann auch für die allgemeine Geschichtsforschung. Es darf indessen füglich bezweifelt werden, ob das auch überall gebührend wahrgenommen wird.

Rares Zeugnis mit Korporationsbezug aus dem Jahre 2011: Lord George Weidenfeld, J.A.V. Unitas Wien, spricht auf dem „Riesenstein“, dem Corpshaus der Saxo-Borussia Heidelberg; Sammlung Robert Lucius.

Beeindruckend ist die Fülle der Zeugnisse, von denen der Leser bei Harald Seewann Kenntnis erhält, bis in die jüngste Vergangenheit, bis hin zu Lord Weidenfeld oder auch Fritz Roubicek. Doch natürlich beginnt es wie immer bei Harald Seewann sehr solide, am Beginn, beim Grundstein sozusagen: Die Originalstatuten der Unitas im Faksimile – großartig! Zwar hätte in der Wiedergabe die Helligkeit etwas angepasst werden können, aber daß man solche Schriftstück überhaupt hat, dass sie in Vollständigkeit gezeigt werden – abermals großartig! Fast stockt der Atem, wenn man liest, auf welche Melodie das – im übrigen sehr schön getextete – Bundeslied zu singen war: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“; wieder einmal zeigt sich hier en passant, aber umso deutlicher, welch treue, welch national-bewusste Vorkämpfer einer wohlbedachten, deutsch-nationalen Sache die Uniten noch im späten 19. Jahrhundert waren. Und wie grausam sie durch den rassistischen Antisemitismus buchstäblich verraten, entrechtet, vertrieben, ermordet wurden.

Bemerkenswertes Erinnerungsstück, leider nur in kleiner Auflösung abgeduckt, aber eben hier vorhanden: Couleurkarte der J.A.V. Unitas von 1894. Wo sieht man solche Quellen, wenn nicht bei Harald Seewann?

Umfassend – so ist diese Dokumentation zu nennen. Eine staunenswerte Menge an Quellen aus der zeitgenössischen Presse, eine große Zahl von Mensurprotokollen, die Erinnerungen einiger literarisch und brieflich in Erscheinung tretender Uniten, die bittere Dokumentation des Verbots und der wirtschaftlichen „Abwicklung“ durch Nationalsozialisten und schließlich – leider recht weit hinten angelegt – ein Bildteil, der uns einige der Uniten lebhaft vor Augen führt. Wie immer bei Seewann-Dokumentationen ist es so, als ob man in die Welt einer bestimmten Verbindung eintauche, erblättert man Seite um Seite.

Und so ist da immer wieder dieses Erstaunen: Wie nur kommt Harald Seewann an diese enorme Fülle des Quellenmaterials? Natürlich wäre es wünschenswert, wenn all dies, wo es doch schon auf dem Scanner lag, auch als Datensatz verfügbar wäre. Der Schritt vom Scan zum PDF ist denkbar klein, und es ist danach nur ein einfaches elektronisches Aneinanderheften. Ach, schön wäre das schon. Aber unsere Dankbarkeit, daß das Erinnerungswerk überhaupt vollbracht wird, soll durch derlei Gedanken nicht geschmälert sein.

Oben wurde es bereits erwähnt: Die Materialfülle, die Professor Seewann zusammenträgt, ist schlicht atemberaubend. Wer über jüdische Verbindungen und über Wien forscht, der braucht dieses Werk. Die Studentenhistoriker, im Vergleich zu ihren allgemein forschenden Fachkollegen häufig ein wenig besser informiert, wissen es. Zahlreiche Leser sind dieser grundlegenden Dokumentation zu wünschen, wobei der Weg über den Herausgeber gewählt werden muß, denn im Buchhandel ist das Werk nicht erhältlich.

Sebastian Sigler

Seewann, Harald, „Auf mein Volk, zu edlem Tun…“ Rückschau auf das Werden und Wirken der Jüdisch-akademischen Verbindung Unitas Wien, 1893 – 1938, Graz 2023, broschiert, 391 Seiten, ausführlicher Bildteil, meist farbig; für 32 Euro plus Porto bei: Prof. Harald Seewann, Resselgasse 26, A-8020 Graz, c.h.seewann@aon.at.

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