Am 9. April 1945 starb einer der bedeutendsten Korporierten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus: der Theologe Dietrich Bonhoeffer, als Student aktiv bei der AV Igel Tübingen. Am 5. April 1943 war Bonhoeffer verhaftet worden. Er wurde er im KZ Flossenbürg gehenkt, er starb auf persönlichen Befehl Adolf Hitlers am Galgen. Nach geheimem Prozeß, ohne Verteidiger. Ermordet.
Der Ex-EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, der selbst korporiert war, dann aber vor dem Zeitgeist einknickte, hat 2019 eine Biographie über Dietrich Bonhoeffer vorgelegt – mit Stärken, aber auch mit peinlichen Schwachpunkten: Huber schweigt weitestgehend zur Bonhoeffers Aktivenzeit im Tübinger „Igel“. Ganz anders die Biographie von Eric Metaxas, die wir nach wie vor als Referenzwerk betrachten.
Den Weg in die innere, geistige Freiheit hat der aus Breslau stammende Theologe Dietrich Bonhoeffer so nachdrücklich gewiesen wie kaum ein zweiter – den Weg zur Freiheit vom Nationalsozialismus, von dieser besonders schrecklichen Form des Sozialismus. „Nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.“ Das war sein Credo. Dorthin gelangt ist er in dieser Welt auf ganz stille und doch so wirksame Weise: in der Gefangenschaft. Als Prediger für seine Mithäftlinge ebenso wie für seine Bewacher und Folterer von Gestapo und SS. Erschüttert stehen wir auch heute vor seinem Schicksal.
Der Weggefährte Eberhard Bethge hat ein epochales Werk über Bonhoeffer geschrieben, es darf als frühes Referenzwerk und zugleich als Bericht eines Zeitgenossen gelten. Vor über zwei Jahrzehnten begann dann Wolfgang Huber, sich mit diesem epochalen Theologen ebenfalls zu befassen. 2011 aber setzte der US-amerikanische Autor und Radiomoderator, der profilierte Medienmann Eric Metaxas eine weitere, die wohl wichtigste Wegmarke zum Verständnis Bonhoeffers.
Ein großer Erfolg war das Buch von Metaxas, es liegt derzeit bereits in der achten Auflage vor. Auch vom Umfang, also der Faktenfülle her kommt es dem ersten wichtigen Werk, dem von Bethge, in etwa gleich. Damit war eigentlich alles gesagt; doch nun wollte sich auch der Theologe Wolfgang Huber an einer Biographie versuchen. Vor der Frage, wie er mit dem Korporierten umgeht, der Bonhoeffer war, soll daher auf die Theologie eingegangen werden. Denn Huber würdigt Bonhoeffers geistliches Werk ausführlich und kundig – das ist durchaus zu loben. Wenig vielversprechend indessen sein eher platter Einstiegssatz zu Bonhoeffer: „Es lohnt sich, sein Denken vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte zu betrachten.“
Huber hatte sich der großen Aufgabe gestellt, den aus dem schlesischen Breslau stammenden Bonhoeffer und seine Theologie zu erfassen. Dies ist recht gut gelungen. Mit dem sicherem Blick des Kundigen stellt der Autor dar, was an Bonhoeffers Theologie wichtig und zentral ist, zugleich umreißt er auch die enorme Weite, die gedankliche Tragweite des Bonhoefferschen Denkens – so wollte dieser nach Indien reisen, um Mahatma Gandhi zu treffen und von ihm zu lernen. Huber führt aus: „Der christliche Glaube wird am Maßstab des neuzeitlichen Wahrheitsbewusstseins geprüft, dieses Wahrheitsbewusstsein aber ebenso am christlichen Glauben. Dieser Prozess der doppelten Kritik wird auf die Frage angewandt, was der christliche Glaube für Gegenwart und Zukunft bedeutet.“ (S. 37) In diesem Zusammenhang zieht Huber eine interessante theologische Linie von Bonhoeffer zur Theologie des deutschen Papstes Benedikt XVI.; bei beiden findet er die glasklare Aussage, dass die Evangelien ausschließlich unter der Voraussetzung verstanden werden können, ja, überhaupt nur verstehbar sind, dass Jesus der Χρήστος – also ein Gesicht des dreieinigen Gottes – ist. (S. 125)
Huber ist sehr sorgfältig, was die einzelnen Aspekte von Bonhoeffers Theologie angeht. Auch die kritische Diskussion um die umstrittenen Ausführungen zu den „Judenchristen“ und einer „judenchristlichen“ Kirche erspart der Autor weder sich noch dem Leser. Diese judenchristliche Kirche sieht Bonhoeffer im Gegensatz zu einem paulinisch geprägten Christentum stehend, weil sie eine Voraussetzung für die Taufe vorsieht – und die hier erkennbare Parallele zu den Deutschen Christen ließ Bonhoeffer für einige Kritiker ins Zwielicht rücken, obwohl der Theologe diese Praxis doch ausdrücklich kritisiert (S.81). Huber berichtet völlig korrekt, daß Bonhoeffer sogar die bloße Frage, ob Juden die gleichen Rechte haben sollten wie Christen, zu einem „Bekenntnisfall“ für die Kirche machen wollte (S. 79); so klar erschien es ihm, daß natürlich die gleichen Rechte vorhanden sind.
Doch wo bei der Bearbeitung der theologischen Aspekte die kundige Hand erkennbar ist, bleibt Huber erstaunlich stumm, wenn es um die Tatsache geht, daß Bonhoeffer korporiert war. Nur in einem einzigen Halbsatz erwähnt Huber Bonhoeffers Zugehörigkeit zur Verbindung „Igel“ in Tübingen (S. 44), doch das ist zu knapp, um den Autor vom Vorwurf der Unterschlagung einer wichtigen Lebensstation Bonhoeffers zu befreien; ohne erkennbaren Zusammenhang folgt dann ein Bild der Aktiven des „Igel“ – Bonhoeffer ist mittendrin zu sehen (S. 45), er war dort, glaubt man der Darstellung bei Metaxas und auch bei Hiber selbst, beileibe kein Außenseiter. Huber läßt hier die nebeneinander liegenden Fakten schlichtweg unbearbeitet. Das ist vor allem deswegen unverständlich, weil Huber selbst ab 2000 Mitglied des VDSt Berlin-Charlottenburg war, um das Band dann bereits 2003 zurückzugeben – parallel zur Übernahme des Ratsvorsitzes der EKD. Das mag nun Feihheit sein, und wir nehmen es zur Kenntnis. Aber mehr als peinlich daran ist, daß er wissen muß, was es mit dem „Igel“ auf sich hat. Huber betreibt damit die Verleugnung der Korporation „Igel“ und damit auch aller anderen Verbindungen. Das ist beschämend für ihn – und ein Ärgernis für diejenigen, die als Korporierte Bonhoeffers Wort folgen.
In puncto Mißachtung des „Igel“ disqualifiziert Huber sich, und – Pech für ihn – er bleibt weit zurück hinter der vor acht Jahren erschienenen und auf dem Portal des Brücklmeiervereins rezensierten Bonhoeffer-Biographie von Eric Metaxas. Dieser hat sich 2011 in einem eigenen Kapitel in vorbildlicher Form um Objektivität bemüht und die Bedeutung der Erziehung und Aktivität im „Igel“ in eine sinnvolle Relation zum späteren Wirken Bonhoeffers gesetzt, Nicht irritieren sollte bei Metaxas, daß er nicht klar zwischen dem „Igel“ und einer „Burschenschaft“ unterscheidet. Wenn man die schäbige Erwähnung bei Huber bedenkt, ist ihm auch heute noch hoch anzurechnen, daß er sich absolut vorurteilsfrei mit Bonhoeffers Verbindungszugehörigkeit beschäftigt – so, wie das ein Huber auch hätte tun können. Wenn er nur zu seinen Farben gestanden hätte.
Wo Huber also patzt, kennzeichnete Metaxas völlig zutreffend Bonhoeffers Akademische Verbindung, die 1871 gegründet wurde, als eine, in die mit deutlich erkennbarer, aber geistreicher Ironie dem wilhelminischen Zeitgeist den Spiegel vorgehalten wurde, denn die „Igel“ trugen – und tragen – die Spottfarben schwarzgrau-silbergrau-mausgrau: eine Persiflage auf die mitunter hypertrophe Farbenwelt der Korporationen in der wilhelminischen Ära. 1920 hatten der „Igel“ die Satisfaktion mit der Waffe abgeschafft; Bonhoeffer stand also nie auf Mensur.
1935, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Gleichschaltung von immer mehr Verbänden, von der auch der „Igel“ betroffen war, sollte Bonhoeffer aus Protest sein Band niederlegen. Dies ist im Zusammenhang mit der absolut gradlinigen Haltung des Theologen und seiner Tätigkeit im Widerstand zu sehen. Entscheidend dafür, Bonhoeffer auch heute als Korporierten anzusehen, ist aber die Tatsache, daß er überhaupt aktiv war. Huber hat hier einen Punkt unbearbeitet gelassen, was die Frage aufwirft, ob er sich um die Benennung der deutlich erwiesenen Schnittmenge zwischen Theologie und Korporationswesen herumdrückt. Oder ob er sich sogar von einem einseitig verbindungsfeindlichen Weltbild seiner Partei, der SPD, leiten ließ. Wie auch immer – er erkannte auf diese Weise auch die Klammer nicht, die zwischen studentischer Gemeinschaft und christlicher Gemeinde existiert. Dabei schreibt Huber selbst über Bonhoffer: „Dieses Für-andere-da-Sein ist das grundlegende Geschehen in einer Kirche, in der Christus als Gemeinde existiert.“ (S. 73) Nichts anderes als dieses Miteinander ist es aber, das den „Igel“ ebenso auszeichnet wie jede andere akademische Verbindung.
Leider versagt Hubers Urteilskraft also im Bezug auf die Bedeutung, die Bonhoeffers Mitgliedschaft im Tübinger „Igel“ für ihn als Theologen – und auch als Widerstandskämpfer – hat. Gleichwohl ist dieses Buch in manch anderem Aspekt klug, kenntnisreich und zugleich überaus flüssig geschrieben. Ein Lebensbild, das uns den Theologen Bonhoeffer zeitgemäß näherbringt. Schön wäre es indes gewesen, wenn dies auch über die leider fehlenden Anmerkungen Hubers zum Korporierten Bonhoeffer hätte gesagt werden können. So bleibt das Fazit, daß die Bonhoeffer-Biographie, die Eberhard Bethge schon vor über 60 Jahren aus dem Erleben schrieb, auch das gültige Referenzwerk über den großen Theologen und Märtyrer des 20. Jahrhunderts bleibt. Der insgesamt sehr respektable Metaxas-Band hat seinen Platz daneben. Für Hubers knappes, überschaubares Werk sollte, auch wenn es für Korporierte unbefriedigend ausfällt, zumindest bei theologisch interessierten Lesern ein Plätzchen neben den beiden zweifelsohne wichtigeren Bänden von Bethge und Metaxas zu finden sein.
Sebastian Sigler
Wolfgang Huber, Dietrich Bonhoeffer – Auf dem Weg zur Freiheit, München 2019, 336 Seiten, geb., 25 Abb. s/w, ISBN 978-3-406731-37-2; 26,95 Euro.
Vergleichswerk: Eric Metaxas, Bonhoeffer. Pastor, Agent, Märtyrer, Prophet, Holzgerlingen 20218; 768 Seiten, geb., Lesefaden, zwei Bildteile s/w, zahlr. Abb. ISBN 978-3-77515-271-6; 29,95 Euro.