Dietrich Bonhoeffer, ein gebürtiger Schlesier, ist über die Verbindung „Igel“ in Tübingen, der er angehörte, ein korporierter Widerstandskämpfer. Am 9. April 1945 wurde er zu einem der bedeutendsten Blutzeugen des Widerstands gegen Hitler. Nach einem Scheinprozeß, in dem ihn ein SS-Richter zum Tode verurteilte, wurde er im KZ Flossenbürg ermordet. Dabei hatte er niemals Gewalt im Sinn; seine „Waffe“ war nur und ausschließlich das Wort Gottes.
Es ist Studentenhistorikern eigen, daß sie bei allen Lebensläufen, auch wenn diese ansonsten von höchstem allgemeingeschichtlichem Interesse sind, zunächst darauf blicken, ob jemand korporiert war. Dies auch dann, wenn die Bedeutung des Betreffenden bis auf heute jedwede Zugehörigkeit zu einer Verbindung weit überstrahlt. Bei Dietrich Bonhoeffer ist genau dies der Fall. Nicht, daß die Verbindung „Igel“ in Tübingen unbedeutend wäre – im Gegenteil, sie wird eher unterschätzt. Und ja, genau dieser weltoffenen, toleranten, unpolitischen Verbindung trat Bonheoffer als Theologie-Student bei. Es spricht dabei für die intellektuelle Reiseflughöhe der Mitglieder des „Igel“ allgemein, daß man sich dort stets einen Spaß daraus machte – und bis heute macht –, verzopfte und antiquierte Strukturen bei anderen Verbindungen, vornehmlich bei den ach so vornehmen Corps, zu karikieren. Und zwar gründlich.

Doch nicht auf das Gebiet des Studentenulks sollen diese Zeilen führen. Thema und Ereignisse sind zu ernst. Nur ein Blick noch nach Tübingen: Ganz so, wie der „Igel“ die Fahne Europas auf seinem Haus hißt, wie man also dort den geistigen Anspruch definiert, über die Stadt und das Land auf Nationen hinauszuschauen, so stand Bonhoeffer für den geweiteten Blick, für das größere Ganze. Und ganz so, wie der „Igel“ bei aller ironischen Sicht auf die Welt eine feste Struktur besitzt, die nach Füchsen, Convent, Inaktiven und Alten Herren geordnet ist, so besaß Bonhoeffer feste Koordinaten für sein Leben, seine Standpunkte, seine Theologie.
Feste Koordinaten waren es auch, die Bonhoeffers Kindheit prägten. Am 4. Februar 1906 wurde er in Breslau als sechstes von acht Kindern eine durchaus großbürgerlichen Familie geboren; vier oder fünf Angestellte hatte seine Mutter, inzwischen in Berlin, immer zur Verfügung. Sein Vater, Karl Bonhoeffer, ebenfalls Alter Herr des Tübinger „Igel“, war einer der führenden Psychiater und Neurologen seiner Zeit, dicht dran an Sigmund Freud, der später das Band der A.V. Kadimah Wien ehrenhalber erhalten sollte und dessen Sohn aktiver Kadimaher war – etwa in jener Zeit, als Bonhoeffer auf die Welt kam. Der kleine Dietrich erhielt seinerseits privaten Schulunterricht, denn die Mutter war Lehrerin und unterrichtete ihre Kinder bis kurz vor deren Abitur – das für den angehenden Theologen indessen keinerlei Problem darstellen sollte.
1923 also legte Bonhoeffer, 17-jährig, die Reifeprüfung ab. Danach nahm er in Tübingen das Studium der Theologie auf. Mit 21 Jahren wurde er, wieder in Berlin, summa cum laude promoviert, im Jahr darauf war er Vikar in der deutschen evangelischen Kirchengemeinde von Barcelona; 1929 dann Assistent an der Berliner Universität; dort habilitierte er sich auch, gerade 24-jährig. Sein Thema lautete: „Akt und Sein“. Es folgte ein Jahr mit praktischer Gemeindarbeit in New York, dann nahm er einen Lehrauftrag an der Berliner Universität an. Als die Nationalsozialisten die Theologie zu reglementieren und teils zu verbieten begannen, verlegte er seine Vorlesungen in den Untergrund – aber er machte weiter.
Im Untergrund gegen Hitler
Bereits 1933 hatte Bonhoeffer den Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“ veröffentlicht; darin forderte er, aktiven Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten. Über die Bekennende Kirche (BK) lernte er schon bald Abwehrchef Wilhelm Canaris, General Hans Oster, Heeresrichter Karl Sack und Generaloberst Ludwig Beck kennen und konspirierte mit ihnen. Zusammen mit seinem Schwager Hans von Dohnanyi war er nun de facto bereits Teil einer Widerstandsgruppe; zunächst war es vorrangiges Ziel, die laufenden Kriegsvorbereitungen zu unterlaufen. Bald nach der Machtergreifung Hitlers war er zudem der Bekennenden Kirche beigetreten, war also ein strikter Gegner der damals herrschenden Diktatur. Ein äußerliches Aufbegehren gegen die Amtskirche war ihm dabei fremd. Er arbeitete offiziell innerhalb der Kirche, als Vorbild.
Bonhoeffer pflegte nun auch verstärkt die vielfältigen internationalen Kontakte, die er erworben hatte. Dies nicht zuletzt, um vor der nationalsozialistischen Politik zu warnen. Verborgen blieb dies nicht. 1936 entzogen die Nationalsozialisten ihm die Lehrerlaubnis, ab 1940 erhielt er Rede- und Schreibverbot. Obwohl die Gestapo ihn auf Schritt und Tritt beobachte, arbeitete Bonhoeffer nun noch enger mit Oster und Dohnanyi zusammen; in Freiburg entwickelte er zusammen mit dem Tübinger Turnerschafter Carl Friedrich Goerdeler, seinem „Igel“-Bundesbruder Constantin von Dietze sowie den beiden Corpsstudenten Franz Böhm und Walter Eucken – dazu kamen weitere Mitstreiter, darunter Adolf Lampe – eine Wirtschafts- und Werteordnung für ein Deutschland nach Hitler im Auftrag des Kreisauer Kreises um James Hellmuth v. Moltke und den Bonner Preußen Peter Graf Yorck v. Wartenburg. Bekannt wurde dies Papier als „Anhang 4“. Es beinhaltet im übrigen genau das, was wir heute als „Soziale Marktwirtschaft“ kennen.
Bonhoeffer wurde schließlich, von anderen Widerstandskämpfern protegiert und gleichzeitig von der Gestapo deutlich unterschätzt, zum Vertrauensmann in der Zentralabteilung des Amtes „Ausland und Abwehr“. In dieser Position wurde er nicht zum Kriegsdienst herangezogen und konnte getarnt ins Ausland reisen. Der geheime Plan der Verschwörer war es nun, mit Hilfe der christlichen Kirchen weltweit vor Hitler und der planvollen Ermordung von Millionen Menschen zu warnen sowie nach Wegen für Austausch und Frieden zu suchen. Am 5. April 1943 fanden dann Gestapo und SS bei Bonhoeffers Schwager Hans von Dohnanyi belastendes Aktenmaterial. Bonhoeffer wurde wegen des Vorwurfs der Wehrkraftzersetzung inhaftiert – zuerst im Wehrmachtsgefängnis Berlin-Tegel, danach im Gestapo-Bunker in der Prinz-Albrecht-Straße. Nach dem Fund weiterer Akten im Herbst 1944, die seine aktive Tätigkeit in den Vorbereitungen zu einem Umsturz zusammen mit dem Grafen Stauffenberg belegten, war sein Todesurteil faktisch gesprochen, auch wenn es erst am 9. April 1945 vollstreckt wurde.
Theologe mit weltumspannendem Blick

Bis nach London, in die Hauptstadt des Commonwealth, war Ruf Bonhoeffers als Theologe gedrungen, und das wohl auch schon in den Jahren, in denen die Gestapo ihn gefangenhielt, verschleppte und ermordete. Das ist enorm, bedenkt man, daß er damals noch lange keine 30 Lenze zählte – aber bereits eine Professur für Theologie innehatte. Im Juli 1945 wurden denn auch in London Gedenkgottesdienste mit breiter Teilnahme von Gläubigen speziell für ihn gefeiert. Er war zum internationalen Vorbild für ein Christsein geworden, das nicht auf veräußerlichter Kirchlichkeit beruht. Zivilcourage, Mut, Ehrlichkeit und Standhaftigkeit waren die weltlichen Attribute seiner von inniger Transzendenz geprägten Gottesbeziehung – er repräsentierte damit Eigenschaften, die die großen christlichen Konfessionen eint. In London ist, völlig logischerweise, Bonhoeffer im Stil einer Heiligenstatue an der Fassade der Westminster Abbey in einer Reihe religiöser Vordenker und Heiligen des 20. Jahrhunderts verewigt.
Auf die Theologie übertragen kann Bonhoeffer damit gewissermaßen – in einem weniger streng gefassten Rahmen – sogar ein Prophet speziell für die jungen Leute gesehen werden. Er forderte die Kirche auf, sich auf eine Generation von Menschen vorzubereiten, deren Sprache sich stark von der bisherigen Sprache der Kirche unterscheiden würde. Auch wenn er sein Leben bereits 1945 lassen musste, erscheint es so, als habe er die Gender-Diskussion mit ihrer Verwirrung biologischer Tatsachen bis hin zur Geschlechtsumwandlung ebenso geahnt wie die gedankliche Selbstermächtigung einiger Menschen, die ernsthaft glauben, über den Beginn des Lebens ebenso wie über dessen Ende selbst entscheiden zu dürfen – durch mögliche Abtreibung einerseits, durch einen assistierten Suizid andererseits. Gemessen an der Theologie eines Dietrich Bonhoeffer, der der Ehrfurcht vor dem Leben einen unveräußerlichen Rang einräumte, sind Gender-Ideologie und Abtreibung Irrwege bis hinein in die Todsünde.
Bonhoeffer hat, um das Gedenken an seinen Todestag mit einem Gedanken aus seiner Theologie heraus zu beschließen, das Kirchenverständnis in dem Begriff „Kirche für andere“ verdichtet: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. (…) Sie muß an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend.“ Die Kirche ist also kein Selbstzweck. Speziell in ethische Konflikten sind die Antworten, die in Bonhoeffers Schriften zu finden sind, heute gültiger denn je.
Sebastian Sigler