Für ihre Werte setzten sich die Mitglieder der exklusiv jüdischen Verbindungen des Kartell-Convents mit ganzer Kraft ein. Gegen den immer greifbareren Antisemitismus, gegen widerstrebende Richtungen ihrer Glaubensbrüder, Jede antisemitische Beleidigung beantworteten sie mit Säbelforderungen. Gegen den Nationalszozialismus aber konnten sie nichts ausrichten, die tapferen Männer des jüdischen Kartell-Conventes. Kurt U. Bertrams hat sie mit einem übersichtlichen Darstellung ihres Verbandes dem drohenden Vergessen entrissen.
Dieses Werk ist eigentlich schon fast ein Klassiker, denn es erschien 2009, doch es ist aktuell wie am ersten Tag. Mit einem berührenden Geleitwort, das die Leserschaft das Ergebnis der Untersuchung erahnen läßt, beschreibt Kurt U. Bertrams‘ Beschreibung einer bemerkenswerte Richtung im Korporationswesen: der deutsch-nationalen, jüdischen Verbindungen, die sich im Kartell-Convent, dem K.C., vereinigt hatten. Diese jüdischen Korporierten glaubten unverbrüchlich an die ihre deutsche Heimat, sie beanspruchten das Kaiserreich diesbezüglich geradezu – und sie wurden zwischen alldeutschem Antisemitismus und stärker werdendem Zionismus aufgerieben. Nachdenklich formuliert Bertrams über die Angehörigen des K.C.: „Die ‚unlösbare Zugehörigkeit zum deutschen Volk’, in Schrift und Wort immer beschworen und im Weltkrieg bewiesen, wurde gewaltsam zerrissen: ihr Einsatzwille war eine der vielen Vergeblichkeiten der deutschen Geschichte.“ Wieviel Dramatik schon hier sichtbar wird!
Ein weit ausgreifender, logisch strukturierter geschichtlicher Einstieg ermöglicht die Einordnung zunächst der jüdischen Korporationen im allgemeinen und dann des K.C. recht gut. Deutlich wird auch, daß sowohl das Aufkommen eines rassisch geprägten Antisemitismus als auch die Entstehung des politischen Zionismus zeitlich und inhaltlich in der k.u.k.-Monarchia zu suchen ist. Die Auseinandersetzungen innerhalb der religiösen Gruppe der jüdischen Bürger des Deutschen Kaiserreichs werden nicht ausgespart. Auf dieser Grundlage gelingt die Darstellung der Umstände, die zur Entstehung des jüdischen Korporationswesens führten, sehr schlüssig. Auch der Zusammenschluß jüdisch-nationaler Verbindungen zum K.C., der den Gegenstand des Buches bildet, erschließt sich nahtlos.
Interessant ist es, zu erfahren, daß der K.C. einen „Tendenzparagraphen“ kannte, in dem bereits 1898 festgelegt wurde, in dem die Mitglieder ganz gleichermaßen auf den „Kampf gegen den Antisemitismus in der Studentenschaft“ und die „Pflichten gegen ihr deutsches Vaterland“ eingeschworen werden. Es war eine sehr richtige Entscheidung, diesen Paragraphen im Wortlaut abzudrucken, und auch gleich die Steigerung des nationalen Pathos zu dokumentieren, die sich aus einer Änderung aus dem Jahre 1906 ergab: Nun war die Rede von „selbstbewußten Juden, die auf deutsch-vaterländischer Grundlage im bürgerlichen Leben die vollständige Gleichberechtigung der deutschen Juden erstreben“. Und 1908 wurde es noch deutlicher, denn hier findet sich die Formulierung, „daß die deutschen Juden einen durch Geschichte, Kultur- und Rechtsgemeinschaft mit dem deutschen Vaterlande unauflöslich verbundenen Volksteil bilden“. Zur Einübung dieser Haltung ernannten alle K.C.-Verbindungen einen zweiten Fuchsmajor, den „Tendenz-FM“, der dem auch andernorts bekannten Fuchsmajor, beim K.C. hieß er „Comment-FM“, an die Seite gestellt wurde.
Berührend – eigentlich: beschämend – mutet die ganz sachliche Schilderung der Kriegsereignisse von 1914 bis 1918 an, ganz still wird der heutige Leser, wenn er von der Tapferkeit und dem ungeheuren Blutzoll jüdischer Frontsoldaten Kenntnis nimmt, der – alle statistischen Werte, die Bertrams akribisch liefert, eingerechnet – demjenigen andersgläubiger Soldaten in nichts nachsteht. Bertrams zitiert dazu auf Seite 75 Franz Oppenheimer, der am 2. November 1918 in einer Rede sagt: „Jetzt stehen wir zu unserem Lande. (…) Und diesem Lande gehören wir jetzt, wo es im Unglück ist, noch viel inniger, noch fester als zur Zeit, wo es im Glücke war.“ Daß sich der K.C. auch in der Nachkriegszeit für die Abstimmungsgebiete, zum Beispiel in Oberschlesien, mit deutlichen Worten und dann auch tatkräftig engagierte, wird – Kompliment an den Autor! – ebenfalls dokumentiert. Daß K.C.er Seite an Seite mit ihren christlichen Kommilitonen in den Freicorps kämpften, bezeichnet er treffend als „letzte Manifestation des Burgfriedens“ – denn was ab 1933 geschah, ist bekannt.
Insgesamt sehr aufschlußreich ist das Kapitel über die Zeit der Weimarer Republik, denn Stück für Stück verdeutlicht der Autor, wie sich die Konflikte zuspitzten, in denen der K.C. stand. Einerseits setzten die völkischen Verbindungen diesem jüdischen Korporationsverband, der aus heutiger Sicht sehr nobel und gesellschaftlich anspruchsvoll erscheint, immer mehr zu, und auch die gleichfalls sehr vornehmen, aber eigentlich weltanschaulich völlig neutralen Corps schlossen sich mehr und mehr dieser feindlichen Richtung an. Andererseits vergrößerten sich auch die Gräben gegenüber den zionistischen Verbindungen, für die das Deutsche Reich nurmehr ein „Wohnland“ war – keine Heimat. Die Angehörigen des K.C. waren begeisterte deutsche Patrioten, daran läßt der Autor keinen Zweifel – in den Veröffentlichungen des K.C. finden sich immer wieder Gleichsetzungen des Antisemitismus mit dem Deutschenhaß der Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg.
Sehr nüchtern und sachlich schildert Bertrams die NS-Zeit mit Emigration und Vertreibung, dieser Zeit, in der die jüdischen Akademiker Haß und Ausgrenzung anstatt Anerkennung ihrer Leistungen erfuhren. Unglaublich zu lesen, aber als Lektür umso wichtiger: Noch im Februar 1933, vor der Reichstagswahl vom 5. März, glaubten die K.C.er „an die Zukunft des wahren Deutschland“, wie Alfred Hirschberg in der Central-Verbands-Zeitung schrieb. Kurt Bertrams überschreibt diesen Abschnitt, der zum Kapitel „Das ende“ gehört, sehr passend mit „Irrtümer“.
Ganz logisch und wieder sehr sachlich folgt die Schilderung nach Nachkriegszeit, in der es rund um die Welt viele K.C.-Zirkel gab – in Städten wie Schanghai, London und vor allem New York, in Ländern wie Australien, Argentinien, Südafrika und vor allem Israel. Und wie groß der bleibende Verlust ist, läßt sich daran ablesen, daß im Nachkriegsdeutschland von den rund 2.200 K.C.-Angehörigen aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus nurmehr 15 ihren Wohnsitz in Deutschland hatten.
Viele ließe sich zum Inhalt dieses Buches sagen, der immer sachlich und neutral geschrieben wurde. Auf die geschichtliche Darstellung folgt eine Einzeldarstellung der verschiedenen K.C.-Verbindungen dem Alter nach – völlig korrekt! Jede K.C.-Verbindung wird bedacht, sowie ein sehr ausführlicher Anhang, der Satzungen, Lieder (wichtig!) sowie eine Darstellung aller jüdischen Verbände, die es neben dem K.C. gab – womit das Buch zu einem Standardwerk wird. Eine Reihe zentraler Dokumente, die Erwähnung einiger prominenter Mitglieder sowie eine Farbentafel – letztere bedauerlicherweise nur in schwarz-weiß – vervollständigen das Bild. Gute Vergleiche ergeben sich aus einigen Tabellen, die eher unerwartet kurz vor den Farbentafeln auftauchen. Die zunächst so straffe und logische thematische Anordnung des Bandes verliert, die obige Aufzählung deutet es an, ein wenig an Stringenz.
Das Buch hat ein angenehmes Format und wurde zudem graphisch übersichtlich gestaltet, der feste einband ist ohnehin beim Lesen ein nicht gering zu schätzender Vorteil. Etwas gewöhnungsbedürftig ist aber die Nummerierung der Fußnoten, die auf jeder einzelnen Seite neu beginnt. So werden zwar hohe Hunderterwerte vermieden, aber es wird unübersichtlich, wenn eine Fußnote auf der Folgeseite weitergeht – und eine Zitation des Werkes wird sehr erschwert.
Gelungen ist Bertrams eine flüssige und informative Darstellung mit lexikalischen Qualitäten, die nicht nur umfassend Auskunft zum gesamten jüdischen Korporationswesen – über den K.C. hinaus – gibt, sondern auch ein gutes Stück Allgemeinbildung zur Wilhelminischen Epoche darstellt. Allein schon deswegen ist gerade dieses Buch, das in seiner sehr speziellen Sparte beanspruchen darf, ein Standardwerk zu sein, auch rund ein Jahrzehnt nach seinem Erscheinen unbedingt lesenswert.
Sebastian Sigler
Bertrams, Kurt U., Der Kartell-Convent und seine Verbindungen, 2. erweiterte Auflage Hilden 2009, gebunden, 266 Seiten, einige Abb. s/w im Text, 29,90 Euro, ISBN: 3-933892-69-4.
Ein Kommentar zu “Kartell-Convent: unerhört tapfer, unbeirrt patriotisch, 1933 ohne Chance”