Der 57. Baltische Völkerkommers konnte mit zweijähriger Verspätung am Wochenende 13. bis 15. Mai 2022 stattfinden. Auch und gerade im Schatten des Ukraine-Krieges wurde es ein glanzvolles Fest der studentischen Kultur Europas und der Völkerverständigung in Couleur mit Kommers, Gottesdienst, Festakt, Ball und – der romantische Ort machte es möglich – einer Fahrt den Neckar hinauf.
Heidelberg? Was hat denn die Perle am Neckarstrand mit dem Baltikum zu tun? Das ist eine durchaus lange Geschichte: schon Anfang des 19. Jahrhunderts studierten viele (deutsch-)baltische Studenten in Heidelberg, zwischen 1808 und 1820 haben sich etwa 100 von ihnen zu einer Landsmannschaft – später Corps – Curonia zusammengeschlossen, wobei sie überwiegend dem kurländischen Adel angehörten. Die deutschen studentischen Sitten und Gebräuche der damaligen Zeit übertrugen sich über die Curonen auch an die neue Universität Dorpat, heute Tartu. Bald entstanden dort weitere deutsche Korporationen. Später haben sich auch die estnischen, lettischen, polnischen, jüdischen und russischen Verbindungen im alten Dorpat und an den übrigen baltischen Universitäten entsprechend organisiert.
Der diesjährige Völkerkommers in Heidelberg war schon für 2020 geplant, musste aber wegen der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie zweimal verschoben werden. In diesem Jahr kam noch die Verunsicherung dazu, ob man angesichts der „militärischen Spezial-Operationen“ in der Nachbarschaft der Esten, Letten und Polen in Heidelberg „feiern“ könne. Aber schließlich setzte sich die Meinung durch, dass man zeigen wollte, dass man sich nicht durch politische Wetterwolken einschüchtern lasse, und seien sie noch so drohend.
Vom 13. – 15. Mai 2022 kamen schließlich etwa 200 Teilnehmer nach Heidelberg. Abgesehen von der Internationalität ist sehr bemerkenswert, dass auch zwölf Damenverbindungen vertreten waren, die ältesten schon vor über 100 Jahren gegründet, die jüngste erst vor drei Jahren in Warschau, als „Auferstehung“ einer Plateria von 1930 in Riga. Die politische und gesellschaftliche Bedeutung der Korporationen im Baltikum wird auch deutlich in der Tatsache, dass sowohl in Estland als auch in Lettland der Staatspräsident beziehungsweise die Staatspräsidentin jeweils zu Studienzeiten Band und Mütze trugen. Aktuell ist der lettische Staatspräsident korporiert.
Tradition in europäischer Perspektive
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten viele deutschbaltischen Philister den Wunsch, sich mit ihren verstreut lebenden Landsleuten regelmäßig zu treffen. Nach verschiedenen kleineren Treffen wurde dann am 1. Mai 1964 ein größeres Treffen im Heidelberger Schloss organisiert. Von da an traf man sich bis 1993 jedes Jahr in Heidelberg, wobei der Kommers fast immer im Schloss stattfand. Und in Akademikerkreisen gehörten zu den Landsleuten auch die Esten und Letten, da sie ja mit denselben Traditionen und Idealen aufgewachsen waren. Im Laufe der Jahre stießen immer mehr der ins Exil gegangenen Esten und Letten hinzu – der Kommers wurde zu dem, was er heute ist: zum „Völkerkommers“.
Als ich 1993 den Teilnehmern in Heidelberg versprach – ich war damals Vorsitzender des Baltischen Philister-Verbandes –, zu versuchen, im kommenden Jahr in Dorpat, der Wiege aller baltischen Korporationen, den nächsten Völkerkommers zu organisieren, ahnte keiner, dass dadurch der inzwischen 30-jährigen Völkerkommers-Tradition ein ganz neues Leben eingehaucht werden würde. Nach 1994 in Dorpat, heute wie erwähnt Tartu, traf man sich dann jährlich in Lettland, Estland und Deutschland. Ab 2011 kam auch Polen hinzu, denn auch dort sind wieder Korporationen aktiv, die in Dorpat oder Riga gegründet wurden und ihre baltischen Wurzeln ganz bewusst pflegen.
Das Wochenende in Heidelberg war durch herrliches, frühsommerliches Wetter enorm begünstigt. Gleich am Beginn stand der Kommers mit Landesvater im Königssaal des Schlosses, sehr feierlich, aber ohne ritualisierte äußere Disziplinierung. Der gute Gesang war durchaus bemerkenswert: nicht umsonst gehören die baltischen Sängerfeste zum Weltkulturerbe und die deutschen Studentenlieder sind – in Übersetzung – in den baltischen Korporationen auch gemeinsames „Kulturerbe“. Für die nicht-korporierten Damen gab es eine Stadtführung mit anschließendem Abendessen, die korporierten Damen veranstalteten einen eigenen Kommers. Ab 23 Uhr trafen sich alle im Schloss zu einem gemütlichen gemeinsamen Ausklang.
Am Sonnabend morgen versammelte sich die Festgesellschaft in der Heiliggeist-Kirche, der Heidelberger Hauptkirche, zu einem vom emeritierten lettischen Erzbischof Rozitis, lettonus, gestalteten Gottesdienst; unterstützt wurde er vom Pastor der Heiliggeist-Kirche und einer estnischen Pastorin. Danach zogen die Teilnehmer mit den Fahnen zum nahen Prinz-Carl-Palais, denn dort wurde sie zum Festakt erwartet. Quasi vor der Haustür angekommen wurde auf dem Kornmarkt ein Gruppenfoto gestellt, das nur als höchst gelungen zu bezeichnen ist, das Würde und Fröhlichkeit der Versammlung gleichermaßen zeigt. Für den Festvortrag war es gelungen, den ehemaligen deutschen Botschafter in Moskau, Rüdiger Freiherr v. Fritsch, zu gewinnen. Dass sein Thema so aktuell sein würde, wie es war, konnte bei der Planung noch nicht vorhergesehen werden: „Turning point in history – Putin’s war and the consequences?”
Baltische Tänze mit Neckarblick
Vor dem Ball war am Nachmittag noch genügend Zeit, um durch Heidelberg zu bummeln – sogar in Couleur, was in Göttingen und manchen anderen deutschen Universitätsstädten nicht unproblematisch gewesen wäre. Die Veranstaltung begann mit einem Sekt-Empfang im Hotel „Molkenkur“ oberhalb des Schlosses mit einer herrlichen Aussicht auf das abendliche Heidelberg und den Neckar, bevor ein festliches Dinner die Teilnehmer an die Tische rief. Glanzvoll der Rahmen, exzellent gewählt die Musik, lebhaft der Tanzboden. Der Ball hielt den höchsten Ansprüchen, die nun mal an einen baltischen Ball gestellt werden, sehr wohl Stand. Dies nicht zuletzt, weil der Discjockey wirksame Unterstützung von Curonia und Fraternaits Dorpatensis bekam. Kaum waren die höchst schwungvolle Mitternachtsfrancaise und die unweigerlich folgende Troika vorbei, wurde schon der letzte Tanz angesagt: wie im Fluge verging die Zeit bei herrlichster Begegnung!
Obwohl viele Teilnehmer von sehr weither angereist waren, waren am nächsten Morgen fast alle tanzlustigen Ballgäste an Bord, als das Ausflugsschiff „Königin Silvia“ zu einer dreistündigen Fahrt auf dem Neckar ablegte. Gereicht wurde eine Art Katerfrühstück auf dem Wasser. Zur märchenhaften Aussicht auf Heidelberg und die Berge zu beiden Seiten des Neckar wurden bayerische Weißwürste gereicht, denn schließlich war die Kurpfalz einst wittelsbachisch. Schönsten Sonnenschein mit weiß-blauen Himmel gab es als Zugabe.
Das Wochenende, das von den Organisatoren bestens vorbereitet harmonisch ablief, machte deutlich, wie schnell sich auf der Grundlage gemeinsamer Wertvorstellungen Freundschaften entwickeln können, die über Solidarität hinausreichen. Ganz wie es bereits 1928 die Polonia 1928 an die Curonia schrieb: „Unsere Freundschaft ist älter als unsere Staaten“ Insgesamt hat sich in Heidelberg gezeigt, dass die Korporierten noch auf viele schöne Völkerkommerse hoffen können. 2023 soll in Riga gefeiert werden, 2024 im alten Dorpat, dem heutigen Tartu, und so soll es weitergehen – „ad multos annos!“
H.-D. Handrack (Cur. Goett.)