Der unvergessene Professor Harald Seewann war die erste Adresse, wenn es darum ging, die jüdischen Verbindungen des noch nicht durch zwei Weltkriege zerstörten, akademischen Europa zu beschreiben und zu beurteilen. So auch bei der A.V. Hebronia Czernowitz. In bewährter Manier hat der Grazer Studentenhistoriker Archivalien und Memorabilia dieser Korporation zusammengetragen, und wieder ist der Leser erstaunt, wie reich die Vielfalt der heute noch vorhandenen Archivalien ist.
2016 erschien die 115 Seiten starke, broschierte Schrift zur A.V. Hebronia Czernowitz, aber derzeit ist sie von neuem und nochmals größerem Interesse, weil ein neuerlicher Krieg, dessen schlimme Ausmaße immer sichtbarer werden, das äußerlich weitgehend erhaltene Stadtbild von Czernowitz bedroht. Die erloschenen, aber durch ihre Zeugnisse in Schrift, Bild und Couleur gut dokumentierten Verbindungen der einstmals fast unvergleich stark vom Couleur geprägten, zunächst noch österreichisch-ungarischen Universitätsstadt werden uns angesichts der aktuellen Tragödie heute umso stärker ins Gedächtnis gerufen.
Auch die A.V. Hebronia ist eine erneute Betrachtung wert. Harald Seewann beginnt seine „Streiflichter auf das Leben und Wirken der Jüdisch-nationalen akademischen Verbindung Hebronia Czernowitz (1900 – 1936)“ mit dem Bundeslied, das in seinem Text eine klare zionistische Zielsetzung ausweist. Die Czernowitzer Hebronia stellte sich damit ganz in die noch junge Tradition des politischen Zionismus eines Theodor Herzl. Es folgt eine Bundesgeschichte, die auch das Nachleben der Hebronia als altherrenverband enthält. Denn 1936 mußte der Aktivenbetrieb eingestellt werden, 1941 wurden schließlich mit dem Einmarsch der Wehrmacht die Menschen jüdischen Glaubens verfolgt, vertrieben oder ermordet.
Doch schon lange vor diesen schicksalhaften Ereignissen hatte sich die Hebronia aus der klassischen Tradition des aus dem Deutschen Idealismus erwachsenen Couleurstudententums deutscher Prägung allmählich immer weiter entfernt. Parolen wie „Weg mit Kappe und Couleur!“ und „Los vom Deutschtum!“, die Harald Seewann dann schließlich für das Jahr 1933 dokumentiert, belegen dies deutlich. Die nahtlose Fortsetzung der Aktivitäten der Hebronia innerhalb des IGUL, des „Ringes der Altherrenverbände der jüdisch-zionistischen Verbindungen“, der sich zunächst in Palästina auftat, ist in dieser Dokumentation direkt an die Schilderung der aktiven Verbindung anschließend und zudem sehr ausführlich wiedergegeben. Ihren Abschluß findet diese 36 Seiten starke, sehr konzentriert und erhellend geschriebene Bundesgeschichte mit den Erinnerungen zweier Czernowitzer Hebronen, Benjamin Winnik und Emil Wenkert.
Es folgt der für Harald Seewann typische Anmerkungsteil, der weit umfangreicher ausfällt als der Textteil. Es lohnt, jede einzelne Verweisstelle auch nachzublättern, denn eine Vielzahl von Informationen ist hier völlig korrekt verzeichnet. Auch an Querverweisen und Vergleichstexten, wie etwa dem Kadimah-Lied, fehlt es nicht. Ein knapper, aber aussagekräftiger Bildteil schließt sich an, sichtbar wird der Bogen von Czernowitz bis nach Haifa und Tel Aviv. Zu sehen sind unter anderem die Delegierten beim XI. Zionistenkongress 1913 und die Festversammlungen der überlebenden Hebronen mit Ehefrauen in den Jahren 1985 und 1988. Aufschlussreiche Dokumente aus der Zeit des Kampfes um Anerkennung und des Aufkommens des politischen Antisemitismus, der im akademischen Bereich insbesondere durch das „Waidhofener Prinzip“ Einzug hielt, schließen sich an.
Insgesamt legt Harald Seewann eine Arbeit vor, die unverzichtbar ist für das komplette Bild der österreichisch-ungarischen Stadt Czernowitz und insbesondere ihrer Universität. Nicht minder wichtig ist aber die Dokumentation der bruchlosen Emanzipation des jüdisch-nationalen Korporationswesens aus der Idee der ursprünglichen, mitteleuropäischen, meist deutschsprachtigen Verbindungen heraus. Denn natürlich sprachen die Czernowitzer Akademiker deutsch. Welch eine Tragödie der Untergang dieses gesamten akademischen östlichen Mitteleuropas in den Feuerstürmen des 20. jahrhunderts doch ist! Harald Seewanns feine und sorgfältige Dokumentation der A.V. Hebronia illustriert es deutlich. Dem Herausgeber, der sich um eine Vielzahl von Verbindungen kümmert, der die Geschichte der ältesten Jüdisch-akademischen Verbindungen, der Kadimah Wien, dokumentierte, der nicht zuletzt das fünfbändige Grundlagenwerk Zirkel und Zionsstern herausgab und der als einziger Angehöriger nicht-jüdischer Verbindungen und überzeugter Burschenschafter das Ehrenband des IGUL trägt, kann für seine Arbeit gar nicht genug gedankt werden!
Sebastian Sigler
Harald Seewann (Hrsg.), Erloschenes Burschentum in der Bukowina. Streiflichter auf das Leben und Wirken der Jüdisch-nationalen akademischen Verbindung Hebronia Czernowitz (1900 – 1936), Graz 2016 im Selbstverlag, erhältlich für 10 Euro beim Herausgeber in der Resselgasse 26, A-8020 Graz.