Professor Harald Seewann ist schon mit einer langen Reihe bedeutender Veröffentlichungen zur Studentengeschichte an die Öffentlichkeit getreten, darunter auch eine große Studie zur Geschichte der ältesten jüdischen Verbindung, der A.V. Kadimah Wien. Umso größer war nun die Überraschung, daß es abermals eine Sammlung von Aufsätzen und Quellen zur Kadimah geben sollte. Die Lektüre des neuen Werkes schließlich löst Erstaunen und große Bewunderung aus!
Auf 774 Seiten wird die Welt der A.V. Kadimah, die der Leserschaft aus einem monumentalen ersten Band bereits vertraut ist, durch eine Vielzahl von Bild- und Textzeugnissen ergänzt. Den Auftakt macht eine eindrucksvolle Bildergalerie mit dem Couleur der Kadimah sowie Vergleichsstücken der Charitas Graz, der Barissia Prag sowie der Makkabaea Wien. Der Bildteil setzt sich fort mit den Ablichtungen einer ganzen Reihe jüdischer Couleurkarten – alle ausnehmend schön. Konkret ist hier abzulesen, wie sehr die jüdischen Studenten ganz nahtlos an der akademischen Kultur Mitteleuropas teinahmen. Prachtvolle Zeugnisse der Freude jüdischer Akademiker am Couleurstudententum!
Als ein erster Höhepunkt im Dokumententeil darf der Schriftverkehr gelten, der die behördliche Genehmigung der A.V. Kadimah begleitete. Da jede Verbindung eine derartige Genehmigung zu durchlaufen hatte, ist dies ein Fundstück von allgemeinem Intersee, das über das jüdische Korporationswesen hinausweist; eine Wiedergabe der Statuten sowie einige Berichte der frühesten Versammlungen folgen.
Von besonderem Interesse dürfte der Erstabdruck eines Aufsatzes sein, der auch für den Tagungsband der 80. deutschen Studentenhistorikertagung, der gemeinsamen Tagung des AKSt mit der HfJS sowie der 27. schweizerischen Studentenhistorikertagung vorgesehen ist. Es handelt sich um eine Gesamtdarstellung der Frühgeschichte der Kadimah, die hier erstmals in dieser Geschlossenheit vorliegt.
Es folgt eine umfassende, aber in dieser Breite durchaus sehr angebrachte Würdigung Theodor Herzls, und zwar speziell seiner visionären Schrift „Der Judenstaat“ und dann auch Nachrichten zu seinem Tod und seinem Begräbnis, das auch für die Korporationswelt ein eminentes Ereignis war, trug Herzl doch die Ehrenbänder der Kamidak Wien und der der Ivria Wien. Ein einordnender Aufsatz beschließt diesen ganzen Themenkomplex, er erschien im von Peter Platzer und Raimund Neuß 1997 herausgegebenen Erinnerungsband an Fritz Roubicek, der den markanten Titel „Wien-Auschwitz-Wien“ trägt. Es folgt eine höchst umfangreiche, thematisch – deswegen auch nicht immer chronologisch – angelegte Presseschau, die beredtes Zeugnis ablegt vom Fleiß, aber auch von Riecher für relevante Fundstellen, die Professor Seewann zweifelsohne hat.
Eine besondere Rolle haben dabei die Fundstücke zum Waidhofener Prinzip. Auch hier weist die Mehrzahl der Quellen, die Professor Seewann gefunden hat, weit über die A.V. Kadimah und ihre Mitglieder hinaus – die ab Seite 295 wiedergegebene Quellensammlung ist vielmehr ein bedrückendes Zeugnis für das Aufkommen des Antisemitismus an den Universitäten insgesamt. Auf über 170 Seiten ist in mannigfaltiger Hinsicht immer wieder von harten, auch ganz handfesten, körperlichen Auseinandersetzungen sowie immer wieder von Problemen bei der Anerkennung jüdischer Akademiker zu lesen.
Ab Seite 469 werden schließlich herabsetzende Karikaturen über die Kadimah dokumentiert; etwas unvermittelt eingestreut sind zwei sehr schöne Bildzeugnisse: Die Kadimaher in Jahre 1896, als sie Herzls Schrift „Der Judenstaat“ für sich entdeckten – auch Isidor Schalit ist abgebildet. Ein zweites, sehr schönes Bild zeigt Theodor Herzl 1897 in Basel auf dem Weg in die Synagoge, er trägt einen eleganten Dreiteiler sowie – sehr standesgemäß – Zylinder.
Auf den Seiten 670 bis 693 wird es dann für empathisch veranlagte Studentenhistoriker geradezu unerträglich. Harald Seewann bringt ein einzigartiges Dokument – die auf Deutsch verfassten Protokolle des 75. Stiftungsfestes der Kadimah, das 1958 stattfand – in Israel. Die Treue der Kadimaher zu ihrem geliebten Couleurstudententum war ungebrochen. Weder der grassierende Antisemitismus noch das Aufkommen der sozialistischen, zugleich toxisch antisemitischen Ideologie, die als „Nationalsozialismus“ bekannt ist, konnte diese Liebe auslöschen. Was für ein Vorbild liefern uns die ehrenfesten Kadimaher!
Einige wichtige und erhellende Aufsätze runden den zweiten Band der „Kadimah-Fundstücke“, wie Professor Seewann seinen Band mit perfekten Understatement auch bezeichnet, würdig ab. Gewaltig viel Lesestoff, eine komplett erscheinende Wiedergabe all dessen, was zum Thema zu sagen ist. Wichtige korporierte Persönlichkeiten werden auch hier genannt – pars pro toto: Nathan Birnbaum und Wladimir Zeev Jabotinsky. Einmal mehr läßt Professor Seewann seine Leserschaft in die jüdische Welt Osteuropas eintauchen, die untergegangen scheint. Doch bei sorgfältiger Lektüre kommt Stück für Stück die Erkenntnis, daß diese Welt nicht wirklich untergegangen ist. Es gibt sie noch, stark verändert und an neuem Ort – aber lebendig! Ein Blick auf den Herzlberg in Jerusalem genügt.
Eine sehr persönliche Empfindung des Rezensenten soll diese kurze Würdigung abschließen. Ein Band umschlingt alle Korporierten, die ein Herz haben, und dieses Band schließt den Herzlberg und ganz Israel ein. Dieses gelobte Land, das Gott seinem Volk versprach, es ist Beispiel und kann Richtschnur sein! Freilich hat Professor Seewann dies so nicht geschrieben, er hat vielmehr in wissenschaftlich völlig korrekt und einwandfrei die Fakten in nie gesehener Vollständigkeit gesammelt und zwischen zwei Buchdeckel gebracht. Aber diese Liebeserklärung an Erez Israel – sie kann herausgelesen werden aus diesen neutral dargebrachten Fakten. Und was kann sich ein Autor, ein Herausgeber mehr wünschen, als mit seiner Veröffentlichung Emotionen, die Liebe zur Sache, zu erzeugen? Ein größeres Kompliment als dieses kann es nicht geben. Chapeau, Harald Seewann!
Sebastian Sigler
Harald Seewann (Hrsg.), A.V. Kadimah – Fundstücke zur Chronik der ältesten jüdisch-nationalen Studentenverbindung (Wien 1882 – 1938), Band 2, broschiert, 774 Seiten Graz 2022, 28 Euro. Nicht im Buchhandel! Zu bestellen unter: Prof. Harald Seewann, Resselgasse 26, A-8020 Graz, c.h.seewann@aon.at
3 Kommentare zu “A.V. Kadimah Wien, Band 2: Jüdische Verbindungen und eine ganze Welt”