Drei Abiturienten aus der DDR, Thomas v. Fritsch, Thomas Röthig und Hans-Bernd Herzog, 19 bis 21 Jahre alt, hatten den Sozialismus gründlich satt. Sie wollten raus aus der Diktatur. Das war vor heute genau 50 Jahren, und das Endspiel der Fußball-WM sollte sollte ihre Tarnung sein. Burkhard und Rüdiger v. Fritsch waren ihre unverzichtbarer Helfer in der Freiheit – im Westen. Zwei der Genannten sind heute Münchner Schwaben.
Es geht hier um eine Buchrezension – immer noch aktuell ist die Aufarbeitung der sozialistischen Unheils. Spannend wie ein Krimi ist dabei die Fluchtgeschichte. Inhaltlich verbunden wird dies in diesem Buch mit der Fußball-Weltmeisterschaft 1974, so wie das damals der Fluchtplan war. Das macht das Buch höchst aktuell, denn der entscheidende Grenzübertritt war für die Stunde des Finalspiels geplant. Es sollte anders kommen. Spannend wie ein Krimi ist zu lesen, wie die Flucht trotz allem gelang.
Hans-Bernd Herzog, der wenige Jahre später bei Suevia München aktiv werden sollte, sagt: „Ich wollte nicht mehr mit der Lüge leben. Und die Lüge war der Alltag in der DDR.“ Thomas Röthig und Thomas von Fritsch, seinen Mitschülern im Internat in Neuoberhaus, Sachsen, waren eingeweiht. Die drei wollten nur eines – raus aus der SED-Diktatur: „Abenteuerliche Fluchtpläne wurden bei abendlichen Waldspaziergängen diskutiert und wegen Undurchführbarkeit wieder verworfen. In diesen Plänen kamen die Flughafensituationen in Prag und Warschau ebenso vor wie Kofferraumverstecke auf der Interzonenstrecke. Am abenteuerlichsten war wohl die Idee, durch die Elbe bei Hitzacker zu schwimmen. Die Zahl der Toten an der innerdeutschen Grenze hätte sich unweigerlich um drei erhöht.“ Thomas von Fritsch kam schließlich auf die Idee, in einem verklausulierten Brief seinen Vetter Rüdiger von Fritsch, der „im Westen“ wohnte, also in der Bundesrepublik, um Hilfe zu bitten. Der Vetter hatte ihn einige Zeit zuvor in Thüringen besucht. Nun sagte er spontan zu und weihte auch seinen älteren Bruder Burkhard ein, der in München studierte.
Das Abitur kam auch für die drei Freunde in der DDR – und es war das Jahr 1974. Ihre Flucht wurde nun unumgänglich, wenn sie überhaupt durchführbar sein sollte, weil sie bereits gemustert waren – der Militärdienst in der Ostblockarmee, der „Volksarmee“, stand bevor. Erschwerend kam hinzu, daß die DDR 1974 ihr 25-jähriges Bestehen feiern wollte. Das Ministerium für Staatssicherheit rüstete auf. Sämtliche Fluchtversuche sollten mit allen Mitteln vereitelt werden, es erging der knappe Befehl: „Grenzverletzer vernichten“. Lebensgefährliche Aussichten für die Abiturienten.
Ein günstiger Umstand war, dass genau gleichzeitig die Fußball-Weltmeisterschaft im freien Teil Deutschlands, in der Bundesrepublik stattfand. Laut Befehl von Stasi-Chef Erich Mielke mussten alle Fußball-Fans, die zu Spielen nach zum „Klassenfeind“ fahren durften, lückenlos überwacht werden. Eine der größten Stasi-Maßnahmen in der Geschichte lief an: die Aktion „Leder“. Stasi-Spione überwachten nicht nur Fans, sondern vor allem auch die eigene Mannschaft und deren Betreuer, insgesamt 48 Personen, rund um die Uhr – wie Schwerverbrecher. Doch auch unter denen waren wiederum zwölf inoffizielle Mitarbeiter der Stasi, sogenannte „IM“, einer war sogar Offizier im besonderen Einsatz, ein hoher Offizier also, kurz OiBE. Unabhängig davon wurde in Bonn ein Top-Agent der DDR-Diktatur enttarnt: Günter Guillaume, DDR-Spion im Bundeskanzleramt, persönlicher Referent von Bundeskanzler Willy Brandt. Der trat zurück, Helmut Schmidt wurde sein Nachfolger. Das setzte die Ost-Agenten zusätzlich unter Druck. Diese Verwirrung versuchten die drei Abiturienten, die doch nur in Freiheit leben wollten, für sich zu nutzen.
Rüdiger von Fritsch, dessen Unterstützung entscheidend werden sollte, ersann im Westen einen Plan: Nach Bulgarien sollten die drei Freunde reisen, weit weg vom heißen Fußballsommer – vielleicht auch aus den Augen der Spione der DDR-Diktatur. In Bulgarien wollte er die drei mit gefälschten westdeutschen Reisepässen versorgen, wie von Fritsch dem BR sagte, damit „aus diesen jungen DDR-Bürgern vermeintlich junge Westdeutsche wurden, die als Hippies per Autostopp unterwegs waren, in Richtung Türkei“. Auf dieser Route waren in den 1970er Jahren viele Hippies auf dem Weg nach Indien, nach Nepal und in das noch nicht vom Islam unterjochte Afghanistan unterwegs. Auf dieser Route wollten Rüdiger v. Fritsch und sein Bruder Burkhard, heute ebenfalls Münchner Schwabe, die Fluchtwilligen treffen.
In der aktuellen Dokumentation über die Flucht werden die Vorbereitungen so dokumentiert: „Die Pässe dafür will Rüdiger von Fritsch selbst fälschen und tastet sich in den kommenden Wochen mühsam heran, versucht mit Radiergummis und einem Federmesser die Stempel nachzubauen – und gleichzeitig alles andere zu organisieren. Die Zeit drängt, denn die Flucht soll stattfinden während des WM-Endspiels – wenn alle Grenzbeamten Fußball schauen und abgelenkt sind, so seine Hoffnung.“ Bernd Herzog würdigt aus heutiger Sicht seine Helfer: „So wurden die beiden zu Passfälschern, etwas, das in jedem Staat der Welt, sollte es herauskommen, strafbar ist. Natürlich hatten sie keine leeren Pässe oder konnten solche herstellen. Sie baten Freunde bzw. Corpsbrüder, ihnen ihre Pässe zu geben. Keiner hat gezögert, wie Rüdiger uns später berichtete. Sie tauschten die Original-Passbilder durch unsere in den Westen geschmuggelten Passbilder aus und ‚schnitzten’ in damals neu auf den Markt gekommenen Radiergummi mit handwerklicher Bravour bulgarische Einreisestempel.“
Szenenwechsel – Johanngeorgenstadt, 1974. Bernd Herzog, Thomas Röthig und Thomas von Fritsch feierten derweil ihr DDR-Abitur – möglichst unauffällig. Noch 15 Tage waren es bis Bulgarien. Dort sollte die Flucht über die Türkei gelingen. Niemand durfte das wissen, sie verabschiedeten sich nicht einmal offiziell von ihren Freunden. Zu groß war das Risiko. Was die Abiturienten nicht überblickten, war, dass Bulgarien und die DDR bei der Bekämpfung der „Republikflucht“ eng kooperierten. Die Historikerin Prof. Daniela Münkel klärt auf: „Die meisten Fluchten von DDR-Bürgern werden durch die bulgarische Staatssicherheit oder die bulgarischen Grenztruppen verhindert. Das ist einmal durch Festnahmen, aber auch durch Erschießen. Und das Perfide in der ganzen Geschichte ist, dass es ein Kopfgeld gab für jeden DDR-Bürger, dessen Flucht verhindert wurde, und zwar egal, wie.“ Und in dieser Gefahr schwebten nun die drei Freunde in Bulgarien. Sie hatten Geld für ein paar Tage, ein Visum für eine Woche. Thomas Röthig erzählt dem BR: „Ich habe auch sehr viele Ängste gehabt. Und da haben wir uns nie irgendwo untereinander ausgetauscht, weil wir das bewusst auch nicht hochschaukeln wollten.“
Szenenwechsel – München, Sommer 1974. In der Bundesrepublik herrscht WM-Stimmung, die Mannschaft der Bundesrepublik steht sogar im Finale. Doch für Rüdiger von Fritsch und seinen Bruder, die beiden Fluchthelfer für die drei Abiturienten, steht ein anderes Endspiel an. Sie reisen mit den drei Pässen, die sie von Corpsbrüdern erbeten und mit falschen Passbildern und Stempeln versehen haben, nach Bulgarien. Als sie dann kurz hinter der bulgarischen Grenze in ihre eigenen Pässe schauten, waren sie entgeistert: „Es war eine Katastrophe, und die ganze Anspannung der Monate hat sich in einem Schrei entladen. Die Schweine haben die Farbe geändert, und wir wussten, es war alles umsonst. Alles vergeblich.“ Die bulgarischen Einreisestempel hatten sich verändert – statt blau und lila waren sie nun rot und grün. Die von Rüdiger von Fritsch mühsam gefälschten Pässe waren wertlos.
So saßen sie in Bulgarien. Doch alle fünf waren sich sicher, daß sie nicht aufgeben wollten. Die beiden „Engel“ aus dem Westen, die Brüder v. Fritsch, sagte zu, zwei Wochen später wiederzukommen. Neue Pässen mit neuen Stempeln in der richtigen Farbe mussten her. Der neue Treffpunkt war Sofia. 14 Tage lang mussten die drei Freunde aus der DDR in Bulgarien untertauchen, Geld und Schlafsäcke ließen ihnen die Westhelfer zurück. Zu Hause ging Rüdiger von Fritsch umgehend daran, neue Pässe für die drei Freunde zu fälschen. Dafür zog er seinen Vater ins Vertrauen. Der hatte gute Kontakte zum Bundesnachrichtendienst. Von dort kam ein Hinweis, der entscheidend sein sollte: „Haltet die Stempel mal unter eine ultraviolette Lampe, auch in den sozialistischen Ländern fluoreszieren die heute!“ Rüdiger von Fritsch war perplex: „Davon hatten wir noch nie gehört, dass die fluoreszierten, also unter einer UV-Lampe leuchteten.“ Im Nachhinein wurde ihm klar, daß der erste Fluchtversuch wohl gescheitert wäre – mangels fluoreszierender Stempel.
Guter Rat war trotzdem teuer. Rhodamin B, die chemische Substanz für fluoreszierende Farben, war im normalen Handel nicht erhältlich, und die Zeit drängte. Hier sei es nur angedeutet, doch im Buch liest es sich wie ein Krimi: Wieder gelang es, Pässe mit gefälschten Stempeln und Passbildern herzustellen, und diesmal versetzen die Brüder von Fritsch die Stempelfarbe im aktuellen Farbton – mit der Flüssigkeit aus Textmarkern! Und beteten, daß der Fluoreszenzeffekt ausreichend sein möge.
Es klingt so einfach – mit drei gefälschten bundesdeutschen Pässen nach Bulgarien reisen und drei DDR-Bürgern zu einem Leben in Freiheit verhelfen. Das ist es nicht. Doch Rüdiger von Fritsch und sein Bruder wagten das Abenteuer erneut, diesmal war die Bundesrepublik bereits Weltmeister. Sie hatten auch an bewusst farbenfrohe T-Shirts gedacht, um die drei Freunde wie westdeutsche Hippies auf dem Weg nach Indien aussehen zu lassen. Dann kam die bulgarisch-türkische Grenze. Thomas von Fritsch war der erste. Er berichtete vor BR-Kameras: „Ich habe versucht, so wenig wie möglich zu zittern, zu schwitzen oder um mein Angstgefühl (…) Ich habe manchmal das Gefühl, wenn das so laut pocht, dann hören die das.“ Eine halbe Stunde später war Thomas Röthig an der Reihe und schließlich Bernd Herzog.
Bernd Herzog, stark kurzsichtig, musste für die Grenzpassage ohne seine Brille auskommen, weil am Herstellerhinweis erkennbar gewesen wäre, dass sie ein DDR-Produkt war. Er bekam eine andere Brille, die aber für die Korrektur von Weitsichtigkeit ausgelegt war. So tappte er, faktisch fast blind, Schritt für Schritt auf die Grenze zu: „Ich habe erst gar nicht gespürt, dass ich drüben war. Ich habe gedacht, jetzt kommt vielleicht noch ein Grenzer und noch eine Kontrolle. Und dann standen die anderen schon zehn Meter von mir entfernt und haben mich umarmt. Innerhalb von wenigen Sekunden ist alles dann an mir abgefallen, und ich war dann im siebten Himmel.“ So erinnert sich Herzog in der Dokumentation, die der BR im Mai 2024 über diese Fluchtgeschichte ausstrahlte, 50 Jahre nach dem denkwürdigen Grenzübertritt.
Das zu dieser Geschichte gehörige Buch ist indes noch weit spannender als die zweiteilige Fernseh-Dokumentation des BR, das kann hier nur wiederholt werden, denn viel detaillierter kann zwischen zwei Buchdeckeln auf die Fakten eingegangen werden. Beispielhaft sei erwähnt, dass die Flucht auch zur selben Zeit wie die Zypern-Krise stattfand – Griechenland und die Türkei, wohin sie ja geflohen waren, standen unmittelbar am Rande eines Krieges. Empfohlen sei auch die Schilderung der Rückreise – ein so heiterer wie abenteuerlicher Triumphzug dreier junger Männer durch das Europa des Kalten Kriegs.
All dies ist nachzulesen in diesem großartigen Erzählbuch, das Rüdiger von Fritsch vorlegt und das im Berliner Aufbau-Verlag erschienen ist. Der Kunstgriff, das Endspiel der Fußball-WM mit der Flucht inhaltlich zu verknüpfen, ist nicht nur legitim – er ist bestens gelungen. Das Jubiläum beider Ereignisse trägt dazu bei, dem Buch Relevanz zu verleihen. Die Lektüre sei daher wärmstens angeraten, auch, damit das „Nie wieder!“ nicht in Vergessenheit gerät. „Nie wieder“ gilt natürlich für den Blick nach „ganz rechts“, aber genauso wichtig ist der Blick nach ganz links, zum Sozialismus, wo heute als dessen Wurmfortsätze die Antifa, die Klimakleber und „Last Generation“ – und vielleicht auch, ganz klandestin, der eine oder andere „Ampel“-Politiker – ihr Unwesen treiben.
Rüdiger von Fritsch, Endspiel 1974 – Eine Flucht in Deutschland, Berlin 2024, geb. mit SU, 247 Seiten, ISBN 978-3-351-04237-0, 22 Euro. Auch als E-Book erhältlich.
Dieser Text erschien zuerst in der Tagespost und dann in der Internet-Zeitung Tabula Rasa.