Dass Martin Freud, Sohn des berühmten Prof. Sigmund Freud, Mitglied der ältesten jüdischen Verbindung – der J.A.V. Kadimah Wien – war, ist kaum bekannt. Dass Sigmund Freud selbst Kadimaher war, findet noch seltener Erwähnung. Exklusiv schrieb dazu Professor Harald Seewann, der unvergessene Nestor der jüdischen Studentengeschichte, kurz vor seinem plötzlichen, tragischen Tod für uns, den AKSt, auf diesem Portal.
Jean Martin Freud – den ersten Vornamen hat er nie verwendet – war das zweite Kind des Ehepaares Dr. med. Sigmund, des berühmten Begründers der Psychoanalyse, und Martha Freud. Am 7. Dezember 1889 in Wien geboren, bezog er nach dem Besuch der Volksschule und der im Jahre 1908 am Wiener k.k. humanistischen Gymnasium[1] mit Auszeichnung abgelegten Matura im Wintersemester 1908/09 die Wiener Universität und immatrikulierte sich an der Juridischen Fakultät. Am 20. November 1913 sollte er hier zum Dr. iur. promoviert werden.[2]
In seinem ersten Universitätssemester wurde Martin Freud aber zunächst bei der A.V. Kadimah aktiv, der ältesten jüdisch-nationalen Studentenverbindung überhaupt, 1882 gestiftet. Dies geschah einige Tage nach 10. November 1908, aber vor dem 20. November.[3] Über seinen Beitritt, der zeitlich damit recht gut einzuordnen ist, schreibt er: „Mein Vater war sehr tolerant und ließ mich meistens meine Liebhabereien genießen. Ich erwartete von ihm, dass er sich meinem Beitritt zur zionistischen Studentenverbindung Kadimah entgegensetzen würde. Zu meiner Überraschung und meinem Vergnügen tat er dies nicht, und er zeigte sich sogar noch entzückt von dieser Idee.“[4]
Freud engagierte sich sehr im Aktivenbetrieb und es wurden ihm bereits wenige Tage nach seinem Beitritt zur Kadimah die zweite Charge sowie das Amt des Fuchsmajors übertragen.[5] Über seine Eindrücke, die Situation an der Wiener Universität des Jahres 1908 betreffend, schreibt Martin Freud in seinem 1958 erschienenen Buch über seinen Vater und die Familie:[6] „Ein aufregender Vorfall ereignete sich eines Tages, als ich den Eingang zur Universität von Polizisten abgesperrt sah. Niemand durfte hinein. Der österreichischen Polizei war es, nebenbei bemerkt, damals nicht erlaubt, die Universität zu betreten. Sie durfte nicht einmal einen solchen Kampf unterbinden, wie er nun hinter den Toren zu wüten schien. Den antisemitischen Rufen nach zu urteilen, gab es Streit zwischen den deutsch-österreichischen Studenten und ihren jüdischen Kollegen. Was mir bemerkenswert schien, war, daß sich die Juden zur Wehr setzten, und zwar heftig. Das erschien mir außerhalb ihres Charakters zu sein – möglicherweise das erste Mal in zweitausend Jahren, daß Juden, die daran gewöhnt waren, geschlagen und verfolgt zu werden, beschlossen hatten, für sich selbst einzutreten. Ich fühlte, daß ich Zeuge einer historischen Begebenheit war.
Der Eingang vom Bürgersteig her, an dem die Polizeiwache stand, besaß zwei breite, abfallende Zugänge, die mit Balustraden versehen waren. Die jüdischen Studenten wurden, wie ich sehen konnte, mit einer Überzahl von fünf zu eins überwältigt und bald langsam die abfallenden Zugänge hinuntergezwungen. Beide Parteien kämpften mit Fäusten und Stöcken. Während ich beobachtete, sah ich, daß die deutschen Studenten ihre Aufmerksamkeit auf einen gewaltigen jungen Mann richteten, der die Stärke von einem halben Dutzend seiner Feinde hatte. Sie warfen sich alle auf ihn und hängten sich an seinen Nacken. Die Geländer waren offenbar nicht allzu stark, denn in einem kritischen Moment gab eines nach und der große junge Mann und seine Angreifer landeten als wirbelnde Masse von Hüten, Socken, Stöcken, Zement und Körpern auf der Straße. Durch Zufall kam der große junge Mann sehr gut dabei weg. Die vielen feindlichen Körper, die an ihm hingen, hatten seinen Sturz gedämpft.
Da es verwunderlich zu sein scheint, daß auch Socken herumwirbelten, sollte ich hier eine mir erteilte Erklärung abgeben. Im Kampf versuchten beide Seiten, ihre Köpfe vor starken Stockschlägen zu schützen, indem sie ihre ältesten Socken in ihre Kappen oder Hüte steckten, was ihren Kopfbedeckungen die Wirksamkeit von Schutzhelmen verlieh. Ein Gehirn hat Wichtigkeit für einen Studenten. – Das Pflaster außerhalb der Universität war kein akademisches Gelände, und so konnten die Polizisten einschreiten. Das beendete den Kampf jäh, die Streitenden zerstreuten sich schnell und die ganze Angelegenheit nahm, zumindest für jetzt, ein Ende.“[7]
Diese Schilderung des Balustraden-Einsturzes am 10. November 1908 bezieht sich auf die schweren Auseinandersetzungen, die das gesamte Sommersemester 1908 und das Wintersemester 1908/09 andauerten, eine zeitweilige Schließung der Universität zur Folge hatten und schließlich auch einen vom Rektor verfügten Farbenentzug für die Kamimah nach sich zogen.[8] Auslöser dieser Krawalle war die Satisfaktionsverweigerung der Wiener Burschenschaft Alemannia der A.V. Kadimah gegenüber.
Aktivenzeit bei der J.A.V. Kadimah Wien
Über seinen Einsprung in die A.V. Kadimah schreibt Martin Freud: „Einige Abende nach dem Kampf an der Universität ging ich zum Hauptquartier der jüdischen Studentenvereinigung, deren Mitglieder in den Kampf verwickelt gewesen waren. Es gab eine Anzahl solcher Korporationen. Die, zu der ich ging, die Kadimah, war die älteste. Das Wort Kadimah bedeutet beides, vorwärts wie ostwärts. Die Mitglieder der Kadimah waren Zionisten.
Die jungen Kadimah-Männer, auf die ich am ersten Abend traf, erschienen mir in ihrer Unerfahrenheit fremd und ungewöhnlich, in Aussehen und Verhalten völlig verschieden von den jungen Männern, mit denen ich gewöhnlich verkehrte. Zweifellos war ich für sie der ungewöhnlichste Fang, der ihnen unerwartet ins Netz gegangen war. Wäre ich eine junge Frau gewesen, hätten sie aus meiner Art des Verhaltens und Sprechens geschlossen, daß ich in einem vornehmen Kloster erzogen worden sei. Trotzdem hießen sie mich herzlich willkommen. (…) Die Mitglieder der Kadimah kamen aus allen Teilen des österreichischen Kaiserreichs und aus benachbarten Ländern wie Serbien und selbst aus dem Kaukasus. Eine Folge davon war, daß diese ausländischen Mitglieder mit den Feinden Österreichs zusammen dienen mußten, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Das exotischste Mitglied, auf das ich traf, war der riesige junge Mann, den ich im Kampf mit den deutschen Studenten an der Universität gesehen hatte. Er kam aus Turkestan. Er war einer von drei Brüdern gewesen, die ursprünglich vom Gründer und Führer des Zionismus, Theodor Herzl, verpflichtet worden waren. Er hatte sie auf seinen Reisen getroffen. Zwei dieser jungen Männer waren bereits ausgeschieden, als ich Mitglied wurde.
Ich verbrachte einen äußerst angenehmen Abend und kam sehr spät heim. Unsere Wohnung[9] war so ungeschickt geschnitten, daß Vater auf dem Weg vom Arbeitszimmer zu seinem Schlafraum mein Zimmer durchqueren mußte. Da er nie vor dem frühen Morgen zu Bett ging, schlief ich fast immer schon, wenn er vorbeikam. Aber nun war ich noch wach und freute mich auf diese Gelegenheit, weil ich ihm von der Kadimah erzählen wollte. Nicht, daß ich sicher war, daß er darüber erfreut sein würde; jüdische Bürger in herausragenden Positionen hatten starke Vorurteile gegen den Zionismus. Er hätte, wie ich ihn kannte, meinen Eintritt in diesen Verein seh leicht mit Mißfallen betrachten können, als einen neuen Streich, der mich in Schwierigkeiten und Gefahr bringen würde. Wie sich herausstellte, war er wirklich sehr erfreut und sprach dies auch aus. Ich darf jetzt sagen, daß er viele Jahre später selbst Ehrenmitglied der Kadimah wurde.“[10] Soweit die Erinnerungen von Martin Freud.
Der Antisemitismus als prägendes Erlebnis
Enttäuschung drückte Freud darüber aus, dass durch das seitens der deutsch-nationalen korporierten Studentenschaft im Jahre 1896 initiierte „Waidhofener Prinzip“ allen Juden die ritterliche Genugtuung verwehrt worden war:[11]] „Mein Erfolg als neues Mitglied dieser Bruderschaft war nicht so groß, wie ich mir gewünscht hätte. Da ich groß, schlank und stark war, hatte ich zuversichtlich darauf gehofft, daß ich ein preisgekrönter Säbelfechter werden würde. Aber das Beste, was ich bieten konnte, war eher etwas Mittelmäßiges. So oder so hatte dies jedoch, zu meiner großen Enttäuschung, keine Bedeutung mehr. Ich war tatsächlich in der Hoffnung eingetreten, Gelegenheit zu finden, diejenigen bessere Manieren zu lehren, die das Demütigen und Verletzen jüdischer Studenten und auch Studentinnen für einen ausgezeichneten Sport hielten. (…) Ein oder zwei Jahre, bevor ich der Kadimah beitrat, hatte eine Versammlung in der kleinen und wunderschönen Stadt Waidhofen beschlossen, daß kein angesehener deutscher Student einem Juden, der ‚bar aller Ehre’ sei, ritterliche Satisfaktion gewähren sollte.
In meinen Studententagen, als der Beschluß von Waidhofen noch neu war, dachten die Juden an einen Gegenschlag. Es wurde entschieden, daß, wenn die zwei üblichen deutschen Studenten zu dem Treffpunkt des Duells kämen, dem, der erklärt hatte: ‚Es tut uns leid, aber unser Duellant fühlt sich an die Regeln von Waidhofen gebunden’, von dem jüdischen Studenten mit der stärksten und schwersten Hand mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stand, ins Gesicht geschlagen werden sollte. Da meine Hände trotz meiner Größe schlank und leicht waren, wurde ich für diese Aufgabe nie ausgewählt. Tatsächlich gelang dieser Plan nur durch ein Überraschungsmoment. Der Student, der kühn genug war, diese verletzende Erklärung zu überbringen, lernte bald, Schutz auf der richtigen Seite des hoch mit Geschirr beladenen marmornen Cafehaustisches zu suchen.
Ich mußte mich damit zufrieden geben, bei Raufereien dabei zu sein, bei denen wir Juden fünf zu eins oder mehr an Zahl von ihnen übertroffen wurden. Wie ich schon berichtete, wurde ich bei einer solchen Rauferei durch einen Messerstich verwundet. Da ich der Sohn eines Universitätsprofessors war, berichteten die Zeitungen in einer Fülle von Einzelheiten über diesen Vorfall. Als ich an diesem Abend heimkam, sauber und fachgerecht verbunden, saß die Familie mit einem Gast, dem Pfarrer Oskar Pfister aus Zürich, beim Abendessen. Ich entschuldigte mich für mein Aussehen. Vater warf mir einen freundlichen Blick zu. Der Geistliche stand jedoch auf, kam zu mir und schüttelte mir voller Wärme die Hand. Er gratulierte mir, daß ich bei einer so gerechten und edlen Sache verwundet worden war.“[12]
Die in vorstehender Schilderung genannten, oftmals vorkommenden Realinjurien seitens jüdischer Studenten als Konsequenz der Satisfaktionsverweigerung blieben nicht ohne Ahndung durch die Wiener Universitätsleitung. So wird in einem Zeitungsartikel mit der Überschrift „Reibereien zwischen zionistischen und deutsch-nationalen Studenten in Wien“ aus dem Mai 1912 berichtet: „Wien, 3. Mai. In der letzten Zeit fanden außerhalb der Universität drei Überfälle statt, die jüdischnationale Studenten auf deutschnationale veranstalteten, weil ihnen die letzteren die Genugtuung verweigert hatten. Der akademische Senat hat darauf die drei jüdisch-nationalen Studenten relegiert und gegen einen vierten ist die Untersuchung noch im Zuge. Einer Abordnung der jüdisch-nationalen Studenten erklärte der Rektor, daß in Zukunft jeder, der, gleichgültig ob auf akademischem Boden oder außerhalb der Universität, gegen einen Studenten der Wiener Universität Tätlichkeiten verübt, unweigerlich relegiert werde.“[13]
Die erwähnte Verletzung erhielt Martin Freud, damals bereits Inaktiver der Kadimah, am 19. Mai 1913 während einer bereits den ganzen Monat andauernden Serie besonders schwerer studentischer Auseinandersetzungen. Auslöser für die Gewalt war, wie meist auch sonst, die Genugtuungsverweigerung, die jüdischen Studenten die Gelegenheit vorenthielt, Satisfaktion für erlittene Schmähungen zu fordern und zu erhalten. Über die Vorfälle berichtete das „Neue Wiener Journal“[14] ebenso wie ein an das Rektorat gerichteter Rapport des k.k. Bezirks-Polizei-Kommissariats Wien – Innere Stadt bezüglich der Arretierung von sechs jüdischen Universitätshörern aufgrund polizeiwidrigen Verhaltens.[15]
Arthur Sternfeld war ein Zeitgleicher mit Martin Freud, er war aktiv bei der J.A.V. Unitas. 1938 emigrierte er in die U.S.A.; seine Eindrücke über die Vorfälle der damaligen Zeit schildert er wie folgt: „Es gab damals in Wien sechs schlagende jüdische Studentenverbindungen, nämlich Kadimah, Unitas, Ivria, Libanonia, Makkabaea und Zephira. In Provinzstädten gab es auch Ferialverbindungen, deren Mitglieder, wenn sie in Wien studierten, auch in Wien ihre Lokale besassen. Diese sechs schlagenden Verbindungen hatten eine große Funktion an der Aula der Hochschule auszuüben. Am Samstag versammelten sich die farbentragenden Verbindungen bei der Aula zu ihrem gewohnten Bummel (Aufmarsch). Vor dem Ersten Weltkrieg, das ist, bevor Österreich ein deutsch-nationaler Staat wurde, hatten die jüdischen Verbindungen Farbenrecht auf der Aula. Dieses Farbenrecht bestand darin, daß jede Verbindung ihre Farben in der Kanzlei des Rektors hinterlegte, gewöhnlich ein Stück des Farbenbandes. Die Hinterlegung berechtigte die Verbindung die Farben an der Universität zu tragen und am Samstag ‚zum Bummel aufzuziehen’, an dem Aufmarsch aller anderen Verbindungen teilzunehmen. Dieses Farbenrecht wurde nach dem Ersten Weltkrieg vom Rektor suspendiert.
Es kam jeden Samstag zu Krawallen an der Aula, und die deutschen Studenten, in ihrer Überzahl, drängten die wenigen jüdischen Verbindungen aus der Aula hinaus, warfen sie die Rampe hinunter, schwangen vom Rand der Rampe und hagelten mit ihren Stöcken auf die Köpfe der jüdischen Studenten. Es gab natürlich immer Verletzte, die im naheliegenden Künstlerkaffee, das jeden Samstag als Notspital fungierte, verbunden wurden. Außer den deutsch-nationalen und den jüdischen Verbindungen gab es noch die christlichen Verbindungen, die nicht schlagend waren. Die freiheitlichen Verbindungen hatten fast ausschliesslich jüdische Mitglieder, mit ein oder zwei Paradegojim. An der Aula gingen diese freiheitlichen Juden mit den Deutschnationalen gegen die Juden. – Aber wie wir Juden uns immer zu helfen wussten, haben wir uns auch dabei schützen können, indem wir unsere Filzhüte, die wir trugen, mit Zeitungspapier ausstopften, sodaß die Wucht der Schläge vermindert wurde.
Die deutsche Burschenherrlichkeit hatte einen romantischen Zug, der jeden jungen Menschen ergriff, so auch die Juden; und nachdem die deutschen Studenten gute Mensurfechter waren, haben die Juden sich auch gut im Fechten ausgebildet und haben sie oft ‚abgeführt’“. Soweit die Schilderungen Arthur Sternfelds.[16]
113 Gänge auf Säbel: Martin Freud auf Mensur
Martin Freud stand insgesamt zweimal auf Mensur – beide Male mit Mitgliedern deutsch-freiheitlicher Bünde, und es handelte sich wie damals üblich um Säbelpartien. Die erste Partie stieg am 8. März 1909. Sie ist dokumentiert durch das Mensurprotokoll im Paukbuch der deutsch-freiheitlichen Verbindung – der späteren freiheitlichen Burschenschaft – Budovisia.[17] Der Name des Budovisen ist dort mit „Luft“ angegeben, wobei es sich hier um einen Kneipnamen handelt.[18I] Mit 113 Gängen dauerte diese Säbelpartie bemerkenswert lange, und Freud benötigte zwei Sekundanten, die sich ablösten. Der erste war sein Bundesbruder Eugen Buchbinder, der zweite sein Bundesbruder Emil Kugel.
Die Austragung der zweiten Säbelmensur Freuds hat etwa ein Vierteljahr später im selben Jahr stattgefunden, also im Sommersemester 1909. Weder der Name des Gegenpaukanten noch seine Farben sind bekannt. Zeitlich lässt sich die Partie in etwa einordnen durch eine Textstelle eines Briefes, den Prof. Sigmund Freud – damals noch nicht Träger des Kadimaher-Bandes – am 7. Juli 1909 an seinen Schweizer Kollegen und Freund Dr. Carl Gustav Jung[19] schrieb: „Lieber Freund (…) Mein zweiter Sohn hat jetzt die Matura hinter sich u. geht auf seine erste selbständige Reise. Der älteste hat sich in einer Mensur das Gesicht zerhacken lassen u. ganz tapfer dabei benommen. So wird das junge Volk allmählich selbständig u. man ist plötzlich the old man! (…) Mit herzlichen Grüßen für Sie u. ihre liebe Frau – Ihr Freud“[20]
Bei dieser Mensur hat es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Ehrenangelegenheit mit einem Angehörigen einer deutsch-freiheitlichen Korporation gehandelt. Das ist aus dem Umstand des Waidhofener Prinzips heraus nachvollziehbar, wenngleich einige Wiener Burschenschaften – wie Olympia und Moldavia – zu jener Zeit das dort festgelegte Ausschließungsprinzip nicht anwandten. Auch die ausdrückliche Erwähnung des blutigen Ausgangs dieser Säbelmensur durch den Vater spricht für eine Ehrenangelegenheit.
Martin Freud wurde nach seinem Studium ein erfolgreicher Rechtsanwalt und fungierte ab 1931 als Leiter des von seinem Vater gegründeten Psychoanalytischen Verlags. Im Mai 1938 emigrierte er über Paris nach London, dort wurde er im Juni 1940 als „enemy alien“ interniert; 1941 avancierte er zum außerordentlichen Mitglied der British Psychoanalytical Society.
Im Jahre 1958 gab Martin Freud über seine Zugehörigkeit zur A.V. Kadimah folgendes Resümee: „Ich habe es nie bereut, der Kadimah beigetreten zu sein. Tatsächlich bin ich noch immer ein Mitglied dieser Brüderschaft, die infolge der Nazis über die Welt bis hin nach Australien verstreut wurde. Die Mitglieder treffen sich gelegentlich, um sich an alte Studententage zu erinnern.“[21] Martin Freud starb am 25. April 1967 in Hove, dem Nachbarort von Brighton in Sussex an der Südküste Englands.
Sigmund Freud – Ehrenmitglied der A.V. Kadimah
Wie eingangs erwähnt, ist allgemein ebenso wenig bekannt, dass auch Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, der Vater von Martin Freud, das rot-violett-goldene Band der A.V. Kadimah trug – wenn es ihm auch erst in späten Lebensjahren ehrenhalber verliehen wurde. Sigmund Freud, am 6. Mai 1856 in Freiberg / Mähren geboren, in der erzwungenen Emigration in London am 23. September 1939 gestorben, lebte von 1860 bis 1938 – also fast sein ganzes Leben lang – mit kurzen Unterbrechungen in Wien. Nach dem in den Jahren 1873 bis 1881 absolvierten Medizinstudium an der Wiener Universität wurde er nach langjähriger psychotherapeutischer Tätigkeit im Jahre 1902 ins Professorenkollegium der medizinischen Fakultät ebendort berufen.
Als Psychoanalytiker entwickelte Freud eine immer mehr wachsende Distanz zur immer mehr naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie. Er entwickelte folgerichtig eine Theorie von der menschlichen Psyche, deren Konstitution das Ergebnis eines wechselseitigen Wirkungsprozesses psychischer und sozialer Einflüsse ist. Freuds Lebenswerk umfasst neben einer Theorie der psychischen Entwicklung und einer Psychopathologie auch Arbeiten zur Psychotherapie, dazu kommen kulturtheoretische Analysen. Anna Freud, seine Tochter,[22] hat seine Schriften im Jahre 1972 in 18 Bänden als „gesammelte Werke“ herausgegeben.
Einer studentischen Verbindung hat Freud während seiner Studienzeit nicht angehört; wohl aber zählte er zeit seines Wiener Wirkens zu den Förderern der „Jüdisch-Akademischen Lesehalle Wien“,[23I] die sich im Dezember 1899 in „Lese- und Redehalle jüdischer Hochschüler in Wien“ umbenannte.[24] Das Band der A.V. Kadimah erlangte Sigmund Freud wie folgt: Als er im Mai 1936 seinen 80. Geburtstag beging, sandte ihm die A.V. Kadimah ein Glückwunschtelegramm folgenden Inhalts: „Die versammelte Altherrenschaft und Aktivitas der Akademischen Verbindung Kadimah Wien beehrt sich zum 80. Geburtstag die verehrungsvollsten Glückwünsche zu übermitteln mit dem Wunsche dass Ihnen zum Heile der Menschheit noch viele Jahre gesegneter Schaffenskraft beschieden sein mögen.“[25]
Freud bedankte sich für das Telegramm und schloss sein Schreiben mit den Worten „Ihr Freud, der sich zu Ihren Alten Herren zu zählen wünscht“. Die Reaktion kam prompt. Am 1. Juni 1936 ernannte die A.V. Kadimah Professor Freud zum sechsten Ehrenmitglied in ihrer Geschichte.[26] Eine Delegation des Altherrenverbandes und der Aktivitas der Kadimah, der auch sein Sohn angehörte, überbrachte ihm am 6. September jenes Jahres das Farbenband der Verbindung in sein Sommerdomizil im Haus Strassergasse im XIX. Wiener Bezirk. Der Geehrte legte das Band sogleich an, wurde formell aufgenommen und überreichte seine Porträtradierung mit handschriftlicher Widmung als Gegengeschenk für die Verbindung.[27] So war der weltberühmte Professor Dr. Sigmund Freud in seinen späten Jahren Bundesbruder seines Sohnes Martin geworden. In sein Tagebuch vermerkt er unter dem Datum des 6. September 1936: „Kadimah.“[28]
Mitarbeit: Sebastian Sigler
[1] Es handelt sich um das heutige Bundesgymnasium Wasagasse, Wien IX.
[2] Akten des Akad. Senats, Universität Wien, M 32.7, Nr. 874; freundliche Mitteilung des Promotionsdatums seitens des Archivs der Wiener Universität vom 25. Mai 2021.
[3] Jüdische Volksstimme, Wien/Brünn, 20. November 1908; Freud, Martin, Glory Reflected. Sigmund Freud. Man and Father, London 1958; deutschsprachige Ausgabe: Mein Vater Sigmund Freud, Heidelberg 1999, S. 174 – 176; vgl. das Protokoll der ersten Mensur, in: Seewann, Harald, „Freundschaft, Freiheit, Ehre!“ – Die Burschenschaft Budovisia im B.C. zu Wien (1894 – 1938). Ein Beitrag zur Geschichte des deutsch-freiheitlichen Verbindungswesens in Wien, Graz 2019, S. 309. Ein Faksimilie dieses Protokoll ist diesem Beitrag unter der Nr. 1 beigegeben.
[4] Das Jüdische Echo, Zeitschrift für Kultur und Politik, Wien, Ausg. 1984, S. 80; zur Geschichte der A.V. Kadimah insgesamt: Rosenhek, Ludwig (Hrsg.), Festschrift zur Feier des 100. Semesters der Akademischen Verbindung Kadimah, Wien 1933; Seewann, Harald, AV. Kadimah. Fundstücke zur Chronik der ältesten jüdisch-nationalen Studentenverbindung (Wien 1882 – 1938), Graz 2017. Gestiftet wurde die A.V. Kadimah 1882 als ältester jüdischer Studentenverein in Wien, behördlich genehmigt am 23. März 1883. Ihre Farben, das rot-violett-goldene Band, nahm die Kadimah am 20. Februar 1896 an, als Verbindung bezeichnete sie sich seit dem 20. November 1896, letzteres sicherlich auch als Reaktion auf die Waidhofener Beschlüsse. Schwarze Mütze, ab 13. Januar 1928 Kopfcouleur in Dunkelblau. Behördlich aufgelöst am 13. August 1938, ab diesem Zeitpunkt Altherrenvereine in Tel Aviv, Haifa und New York, heute alle erloschen.
[5] Die Jüdische Volksstimme, Wien/Brünn, veröffentlichte am 20. November 1908 die Chargenmeldung: „Wien. (Jüdisch-akademische Verbindung ‚Kadimah’.) Die Chargenwahlen für das laufende 58. Semester ergaben folgendes Resultat: J.U.C. Ludwig Münz *, J.U.C. Martin Freud **, F*, med. Felix Mandl ***.“
[6] Gemeint ist: Freud, Martin, Mein Vater, passim.
[7] Freud, Mein Vater, S. 173 – 174; zu den studentischen Auseinandersetzungen an der Wiener Universität in den 1880er Jahren bis 1925 siehe: Seewann, Harald, Bewegte Jahre. Studentische Auseinandersetzungen an der Wiener Universität in der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1925 im Spiegel der zeitgenössischen Presse, Graz 2018, S. 109.
[8] Vgl .dazu: Seewann, Harald, Bewegte Jahre.Studentische Auseinandersetzungen an der Wiener Universität in der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1925 im Spiegel der zeitgenössischen Presse, Graz 2018, S. 113. Diese Anmerkung wurde am 3. August 2021 verbessert. Vorher stand dort eine falsche Angabe. Der dafür zuständige Bearbeiter bittet um Nachsicht.
[9] Wien IX., Berggasse 19; heute ist dort das Sigmund-Freud-Museum beheimatet.
[10] Freud, Mein Vater, S. 174 – 176.
[11] Das genaue Datum dieser Erklärung war Freud nicht mehr geläufig, als er seine Erinnerungen verfasste.
[12] Freud, Mein Vater, S. 176.
[13] Czernowitzer Allgemeine Zeitung, 5. Mai 1912, S. 2.
[14] Neues Wiener Journal, 21. Mai 1913, S. 4 – 5, diesem Beitrag nachfolgend als Faksimile Nr. 2 und 3 beigegeben.
[15] Archiv der Universität Wien, Zl. 1337 ex 1912/13. Der entsprechende Polizeibericht ist diesem Beitrag als Faksimile Nr. 4 beigegeben.
[16] Sternfeld, Arthur, Brief vom 1. Dezember 1976, das Schriftstück liegt dem Verfasser dieses Beitrags vor.
[17] Seewann, Die Burschenschaft Budovisia, S. 309.
[18] Der bürgerliche Name dieses Gegenpaukanten ist nicht überliefert.
[18] Carl Gustav Jung, * 2. Juli 1875 in Kesswil, Schweiz, † 6. Juni 1961 Küsnacht, Kanton Zürich.
[20] Dieser Brief stammt aus der zur Zeit noch unveröffentlichten Korrespondenz zwischen Sigmund Freud und Carl Gustav Jung, vgl. dazu: www.freud-edition.net; freundlichst zur Verfügung gestellt von Frau Dr. Christine Diercks, Wien, Bearbeiterin der Sigmund-Freud-Edition. Ab Herbst 2021 soll in dieser Edition, einem Projekt der Wiener Psychoanalytischen Akademie / Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ein möglichst vollständiges, neusystematisiertes Sigmund-Freud-Briefverzeichnis und eine Bibliographie sowie in exemplarischen Fällen auch ganze Korrespondenzen als Faksimile-Ausgabe und in diplomatischer Umschrift vorliegen. Dies als Gesamtausgabe aller hinterlassenen Schriften Sigmund Freuds, die nicht nur sein wissenschaftliches Druckwerk, sondern auch das Briefoeuvre sowie den Nachlass umfasst.
[21] Siehe hierzu: Seewann, Harald, Zirkel und Zionsstern. Bilder und Dokumente aus der versunkenen Welt des jüdisch-nationalen Korporationsstudententums, Bd. 1, Graz 1990, S. 140 – 141; Gatscher-Riedel, Gregor, Ein geistiges Zentrum der Wiener jüdischen Studentenschaft. Die Lese- und Redehalle jüdischer Studierender 1894 – 1938, in: David, Jüdische Kulturzeitschrift, 31. Jg., Nr. 123, Dezember 2019, S. 54 – 57; ders., Von Habsburg zu Herzl. Jüdische Studentenkultur in Mitteleuropa 1848 – 1948, Berndorf (Österreich), 2021, S. 54 – 62.
[22] Anna Freud, * 1895 in Wien, † 1982 in London.
[23] Die Jüdisch-Akademische Lesehalle Wien wurde am 16. September 1894 unter dem Patronat der A.V. Kadimah gestiftet.
[24] Siehe hierzu: Seewann, Zirkel und Zionsstern, Bd. 1, S. 140 – 141; Gatscher-Riedl, Ein geistiges Zentrum, in: David Nr. 213, 2019, S. 54 – 57; ders., Von Habsburg zu Herzl, S. 54 – 62
[25] Fundort des Telegramms: University of Essex, The Albert Sloman Library, Colchester, U.K.; Dank schuldet der Verfasser des vorliegenden Beitrags Herrn Nigel Cochrane, Sub-Librarian, für die freundliche Zusendung einer Kopie des Telegramms. Im Folgenden ist es unter der Nr. 5 wiedergegeben.
[26] Clark, Ronald W., Freud. The man and the cause, London 1982, S. 499.
[27] Clark, Freud, S. 499, beschreibt die Zeremonie der Bandverleihung an Sigmund Freud wie folgt: „However, there was one birthday honor which did give him considerable pleasure. In May the Viennese student group Kadimah, possibly the oldest Zionist society, sent Freud a congratulatory message. Acknowledging it, he signed himself: ‚Freud, who would have liked to belong to your Alte Herren (Old Boys)’. On receiving this, the Kadimah decided to elect him an Honorary Member and asked his son Martin who had joined the Kadimah years earlier, how his father would react on this proposal. Freud was delighted, and on September 6 a special delegation visited his holiday villa on the outskirts of Vienna, to present him with the red purple a gold sash. ‚May i put it on?’, he asked. ‚We did not clare to ask you to do’, replied one member of the delegation. Freud was then formally inaugurated – the sixth Honorary Member since the founding of the Kadimah in 1882”; vgl.: Molnar, Michael, Sigmund Freud. Tagebuch 1929 – 1939. Kürzeste Chronik, Frankfurt am Main 1996, unter dem 6. September 1939.
[28] Der Tagebucheintrag im Folgenden als Faksimile Nr. 6.