Der Historiker und Archivar Prof. Dr. Dr. Harald Lönnecker war über alle Dachverbände hinweg geschätzt und wurde – das ist nicht zuviel gesagt – verehrt. Studentenhistorikern und allen anderen Forschern stand er unterschiedslos zur Seite, wenn es um Fachfragen ging. Und der Andrang war enorm, denn sein Wissen war geradezu allumfassend. Es mutet an wie eine Übertreibung, doch es entspricht der Realität – in schier unfassbarem Tempo bearbeitet dieser so zugewandte und immer freundliche, dabei aber immer wache und kritische Geist Thema auf Thema, seine Veröffentlichungsliste ist immens.
Plötzlich und unerwartet verstarb Professor Lönnecker im Juli 2022 in seinem 59. Lebensjahr. Die Lücke ist schlichtweg nicht zu schließen; unser obiges Bild zeigt ihn bei seinem Vortrag vor dem Arbeitskreis der Studentenhistoriker am 18. November 2021 in der Hochschule für Jüdische Studien im Rahmen der gemeinsamen Tagung dieser beiden Institutionen. Am 14. Juni 2025 gedachte die Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung des Verstorbenen. Die sehr persönliche und berührende Gedenkrede des Vorsitzenden, Christian Oppermann, Prager B! Arminia zu Bochum, dokumentieren wir im Folgenden.
Professor Lönnecker zum ehrenden Gedächtnis widmet die Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung den 24. Band der „Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert“ dem 2022 verstorbenen Nestor der Studentengeschichte. Fast wie ein Ausschnitt dessen wissenschaftlichen Nachlasses, voller Reichtum und Vielfalt – so ist dieser Gedenkband für den Forscher geraten, den wir hier rezensieren.Es verwundert mitnichten, dass dieser Gedenkband unter dem Wahlspruch von Harald Lönneckers Stammbündern, den Burschenschaften Normannia-Leipzig zu Marburg und Normannia-Leipzig, steht. Dieser lautet „Wahrheit, Muth und Kraft!“, und speziell im ersten Teil des Buches, in dem persönliche Worte von Wegbegleitern Harald Lönneckers im Mittelpunkt stehen, wird sich der Leser gerade mit diesen drei Worten öfter an den Menschen und Bundesbruder Harald Lönnecker erinnert fühlen.

Die 17 wissenschaftlichen Beiträge im zweiten Teil befassen sich mit der facettenreichen Geschichte der Burschenschaften und Universitäten von 1816 bis in die 1960er Jahre. Einige der umfangreichen Ausarbeitungen befassen sich mit lokaler Korporationsgeschichte bzw. mit Ereignissen im studentischen Leben in den Hochschulorten Würzburg, Leipzig, Marburg, Regensburg und Breslau. Auch Österreich wird in zwei Beiträgen zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Österreich und zum Einsatz der Studenten im Abwehrkampf von 1918 bis 1920 in Kärnten berücksichtigt.
Der frühen Burschenschaftsgeschichte widmet sich der Leiter des Universitätsarchivs Jena, Privatdozent Dr. Stefan Gerber. Er beleuchtet exemplarisch ein tragisches Fährunglück des Jahres 1829, das sich erst auf den zweiten Blick als geheimes Treffen führender Vertreter der verbotenen Burschenschaft herausstellt. Eine schöne Einzelstudie! Einen Überblick über die Entwicklung der Würzburger Burschenschaften im langen 19. Jahrhundert gibt Prof. Dr. Matthias Stickler, der Leiter des Würzburger Instituts für Hochschulkunde. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die nationalliberalen und demokratisch-revolutionären Traditionen der Burschenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend zu Lasten der korporativ-waffenstudentischen Traditionen zurückgegangen seien. Im Kaiserreich näherten sie sich den Corps an und sind, so Stickler, ein Teil des akademischen Establishments geworden.
Dr. Franz Egon Rode, der Leiter von Archiv und Bücherei der deutschen Burschenschaften, bestätigt in seiner Fallstudie über die Ausbreitung des Antisemitismus in den Burschenschaften des Kaiserreichs in wesentlichen Punkten diesen Befund. Er richtet seinen Blick dabei speziell auf den Konflikt zwischen der Burschenschaft Hevellia-Berlin und Richard Dehmel, der nach seinem Ausschluss zu einem bekannten deutschen Schriftsteller avancieren sollte. Im Ergebnis hätten bei der Etablierung des Antisemitismus in den Burschenschaften weniger rassenantisemitische Überzeugungen, sondern vielmehr Statusängste in einer zunehmend antisemitisch geprägten Studentenschaft die entscheidende Rolle gespielt.
Den positiven Integrationsmomenten des Kaiserreichs widmet sich hingegen Dr. Jens Blecher, der Direktor des Leipziger Universitätsarchivs. Er befasst sich mit der Frage, inwieweit die Reichseinigung zu einem Mentalitätswandel bei den Leipziger Studenten hinsichtlich der nationalen Zugehörigkeit geführt habe. Anhand der Matrikelbücher der Universität Leipzig weist er nach, dass sich nach 1870 die nichtsächsischen Studenten zunehmend weniger als Ausländer an der Leipziger Universität, sondern als gleichberechtigte Inländer in einem deutschen Bundesstaat angesehen haben, was für die Etablierung eines integrativen Nationalbewusstseins spreche.

Prosopographische Arbeiten, für die Harald Lönnecker eine besondere Vorliebe hegte, stellen die Freiburger Burschenschafterlisten von 1816 bis 1849 und die des „Progresses“ in Berlin von 1835 bis 1850 dar. Weitere Beiträge setzen sich mit der Bedeutung des Antisemitismus in den Burschenschaften des Kaiserreichs auseinander, beschreiben die Rolle der Alten Herren zwischen 1918 und 1945 sowie von Burschenschaftern in der NS-Zeit, sowohl als Täter als auch im Widerstand. Der weitgefächerte Themenkreis des Buches umfasst auch das Studentenleben in der aus der Marburger Burschenschaft Rheinfranken hervorgegangenen Kameradschaft „Ritter von Schönerer“, weiterhin einen Ehrenstreit in Ost-Oberschlesien, die Rolle der Religion im öffentlichen Leben aus sozial-ethischer Betrachtung und die Entwicklung von Goethes Trinklied „Ergo bibamus“. Im dritten Teil des Buches erfährt es eine Abrundung mit dem Lebenslauf und dem Werksverzeichnis des Verstorbenen.
Der nun vorgelegte 24. Band der Darstellungen und Quellen ist ein bunter Strauß an Arbeiten, die Harald Lönnecker zum Teil noch selbst angeregt hatte und dessen Vielfalt Lönneckers breitgefächertem studentenhistorischem Forschungsspektrum entspricht. Was ursprünglich als Festschrift zum 60. Geburtstag des so überaus präsenten und wissensstarken Forschers gedacht war, geriet nun, nach dessen plötzlichem Ableben, zu einer 834 Seiten umfassenden Gedenkschrift.
Nils Kowalewski, Syburgia-Dortmund, Germania-Königsberg zu Hamburg, Franconia-Münster
Oppermann, Christian (Hrsg.), „Wahrheit, Muth und Kraft!“ – Gedenkschrift für den Historiker, Archivar und Burschenschaft Prof. Dr. Dr. Harald Lönnecker, Heidelberg 2025, 834 Seiten, geb., 68 Euro. Zu beziehen auch über die Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsorschung.