Auf der 80. deutschen Studentenhistorikertagung hielt Professor Helmut A. Schaeffer, einen bemerkenswert objektiven, nichts beschönigenden Vortrag über den Akademischen Turnerbund. Der Titel sagt bereits alles: „Die Diskriminierung jüdischer Mitglieder in den Berliner Akademischen Turnverbindungen (ATB) in den Jahren 1871 – 1935“. Er bezieht sich auf eine kürzlich erschienene Studie, die der Arbeitskreis Zeitgeschichte des Akademischen Turnerbundes unter Leitung von Christian Abendroth erstellt hat. Hier haben wir zunächst für Sie den Mitschnitt des Vortrags von Professor Schaeffer aufbereitet:
Der Vortrag von Professor Schaeffer findet sich hier: https://youtu.be/sCkCk_Vrc1I
Youtube-Kanal des AKSt
Rezension: Vom Turnerkreuz zum Hakenkreuz
Schon auf dem Titelbild ein Wappenschild einer Turnerverbindung, kombiniert mit einem übermächtigen, stilisierten Hakenkreuz im Strahlenkranz, im Hintergrund alles überragend – das schmerzt. Heute mehr denn je. Doch es ist eine Originalquelle aus dem Jahre 1935. Dieser Schmerz muß ausgehalten werden. Und der ATB kann damit umgehen, das sei vorweggenommen.
Die teils klandestine, teils aber auch ganz offen grassierende Judenfeindschaft im 1871 proklamierten wilhelminischen Kaiserreich – das ist ein bis heute vielfach nicht genügend bedachter Aspekt der Geschichte dieses nach Bismarck auch ohne Österreich „saturierten“ Staates. Bemerkenswert offen und ohne Tendenzen zur Beschönigung ist diese Schrift des Akademischen Turnerbundes (ATB) angelegt. Eine über den Verband hinausgehende Öffentlichkeit wird ausdrücklich aufgerufen, an einem Urteil über das, was geschah, mitzuwirken. Rainer Schlundt formuliert dementsprechend im Vorwort unter Verweis auf Herodot, Neil Postman und Johan Huinzinga, daß die Geschichtssschreibung zu einer Art „Bilanz“ finden werde, in der eine Kultur über sich selbst Rechenschaft ablegt: „So wird sich unsere Arbeit nicht damit begnügen, Fakten zu sammeln, sie muß diese Fakten einordnen und bewerten. Somit bieten wir diese Aussagen der ATB-Öffentlichkeit an, im Wunsche, unsere Geschichte möge letztlich zur Rechenschaft beitragen.“
„Zerrissenheit“, gerade auch unter den Turnern vom ATB, war ein hervorstechendes Merkmal der Weimarer Zeit – das legt bereits die Überschriftenthese des ersten Aufsatzes nahe. Rainer Schlundt, der Autor, spiegelt hier eine These des deutsch-amerikanischen Historikers Fritz Stern und legt ein Psychogramm der Gesellschaft der 1920er Jahre vor, das gut und gerne auch in ein allgemeingeschichtliches Werk Eingang finden könnte. Chapeau!
Im folgenden Aufsatz interpretiert Rainer Schoenfeld die bereits skizzierte kollektive Verrissenheit für den ATB. Ohne zu beschönigen beschreibt er, wie der Antisemitismus sich in den Verbandsblättern niederschlug – nicht kämpferisch, nicht aggressiv, sondern mit einer niederschmetternden Selbstverständlichkeit. Dort wie in der Gesamtbevölkerung ist diese Zerrissenheit trotz der als gegeben akzeptierten Judenfeindlichkeit als Gegenthese zu Militarismus und Kriegslüsternheit verstehbar, denn im Vordergrund standen die Leibesübungen, die gezielt zum Hochschulsport ausgebaut wurden. Dieser wiederum wurde von radikalen Kräften, allen voran vom NSDStB, nur zu gerne übernommen, um daraus eine gesellschaftliche Grundlage für einen zunehmend militärischer Wehrsport zu formen. Ein zwiespältiges Bild der Aktivitäten und der gesamten Haltung des ATB – gerade auch in der Frage der Judenfeindlichkeit – bleibt als beklemmendes Resümee. Dieser Aufsatz ist damit ein erster zentraler Teil des Werkes.
Es folgen zwei kurze Kapitel über die Diskussion um die Einführung eines Führerprinzips sowie über Widerstand gegen den NSDStB aus den Reihen des ATB – es ist gut, daß beides thematisiert wurde, doch speziell beim zweiten dieser beiden Themen konnte man sich tatsächlich kurz fassen.
Eine brennende Frage, eine offene Wunde berührt das auch in Heidelberg vorgetragene Thema von Helmut A. Schaeffer. Es geht um Ausgrenzung jüdischer Mitglieder des ATB in den Jahren 1871 bis zur Auflösung durch die Nationalsozialisten geht. Hochinteressant schon die Schilderung der Grundlagen, aus denen hervorgeht, dass die Mehrzahl der Juden im Deutschen Kaisserreich in den 1871 hinzugewonnenen Gebieten – Elsaß-Lothringen und Westpreußen – lebten. Wenn es ab 1879 eine breite und letztlich zersetzende Problematisierung einer „Judenfrage“ gab, hängt diese Frage also ganz originär mit der großen gebietsmäßigen „Saturiertheit“ des Wilhelmischen Kaiserreichs zusammen. An einigen prominenten Beispielen schildert Schaeffer die Stigmatisierung jüdischer Mitglieder, die schon 1881 öffentlich bekannt war, sowie ab dann latent vorhandene und 1924 offiziell beschlossene Verweigerung, jüdischen Korporierten Satisfaktion zu gewähren. Ab der Machtergreifung der Nationalsozialisten zeigte sich der ATB, auch das schildert Schaeffer, ohne Einschränkungen auf der Linie der neuen Machthaber; er schildert die Schicksale der Gebrüder Guttstadt, zweier Mitglieder von ATB-Bünden, die vom Judentum zum Christentum konvertiert waren, aber trotzdem als Juden verfolgt und umgebracht wurden: eine knappe, unaufgeregte, sachliche Schilderung des geistigen Niederganges, den der ATB genau parallel zur umgebenden Gesellschaft ging. Auch wenn dieser Aufsatz dem Denkansatz, nach dem der Nationalsozialismus ein „rechtskonservatives“, also letztlich „rechtes“ Problem war, verhaftet bleibt und somit der sozialistische Grundcharakter dieser Diktatur unbeachtet bleibt, ist dies eine gute und nachahmenswerte Studie – der zweite inhaltliche Schwerpunkt dieses Buches.
Eine statistische Arbeit zur NSDAP-Mitgliedschaft von Mitgliedern des ATB schließt sich an. Diese sehr sorgfältige Untersuchung bringt im wesentlichen eine Untermauerung der praktisch gewonnenen Erkenntnis, daß die Linientreue des ATB im nationalsozialistischen Staat sehr groß war. Ausdrücklich möchte Christian Abendroth, der Autor, seine Ergebnisse als Ausgangspunkt für weitergehende, mentalitätsgeschichtliche Forschungen verstanden wissen.
Die Gestaltung des Bandes ist solide. Erfreulich die Machart als fest eingebundener Pappband, die fehlend Beschriftung des Buchrückens ist eine Kleinigkeit, die auffallen wird, sobald man den Band in der umfangreichen Privatbibliothek zu suchen beginnt. Das Design von Titelseite und gesamtem läßt die Vermutung zu, daß hier engagierte Autodidakten gewirkt haben. Als Schrifttype wurde die als Standardschrift verbreitete Times New Roman verwandt, Abstände und Linien wurden weniger graphisch, sondern mehr textbezogen aufgefaßt, bei technischen Zeichen gab es kein einheitliches Reglement – so bleibt trotz des Festeinbandes der Eindrucks eines wissenschaftlichen Skripts; die Wiedergabequalität mancher Bilder läßt deutlich zu wünschen übrig. All dies tut dem Inhalt keinerlei Abbruch, zumal insgesamt mit erkennbarer Sorgfalt gearbeitet wurde.
So bleibt festzuhalten, daß dies ein wichtiges und Buch ist, das dem ATB zur Ehre gereicht. Ein knappes Kompendium, das aber keinen Aspekt der Verbandsgeschichte ausläßt – so zumindest der Eindruck des interessierten Lesers und Rezensenten. Deutlich wird, daß eine ganze Reihe von ATB-Angehörigen mit Nachdruck und Akribie an dieser Studie gearbeitet hat. Das macht Mut. Und vielleicht folgen andere Dachverbände diesem guten Beispiel in absehbarer Zeit.
Sebastian Sigler
Arbeitskreis Zeitgeschichte des Akademischen Turnerbundes / Christian Abendroth (Hrsg.), Vom Turnerkreuz zum Hakenkreuz – Kritische Betrachtung zum Weg des Akademischen Turnerbundes ins „Dritte Reich“, Bielefeld 2018 (Verbandsveröffentlichung), 302 Seiten, Festeinband, ISBN 978-3-00-057944-8.
2 Kommentare zu “Vom Turnerkreuz zum Hakenkreuz: ATB stellt sich seiner Geschichte”