Die Festschrift 175 Jahre Bonner Burschenschaft Alemannia 1844 – 2019 zeigt ein ganzes Spektrum interessanter Themen und Persönlichkeiten. Und es gibt nur wenige Gemeinschaften, die auf eine solch lange Daseinsperiode zurückblicken können. Alemannia ist weit beständiger, als jede bundesrepublikanische Institution es sein könnte.
Wenn eine Studentenverbindung hoffnungsfroh auf ihr 200. Stiftungsfest vorausblickt, ist das Grund zur Freude und zum Stolz. Aber es ist zugleich eine Herausforderung. Was ist das Geheimnis ihres ungebrochenen Erfolgs über alle Generationen hinweg? Was macht die bleibende Attraktivität einer burschenschaftlichen Lebensgemeinschaft im Wechsel der Gezeiten aus? Dabei waren die burschenschaftlichen Anfänge der Bonner Allgemeinheit 1819 überschattet von Aggression und Repression. Diese Epoche, an deren Ende 1843 die Gründung der Fridericia stand, aus der die heutige Alemannia schließlich 1844 hervorgehen sollte, war alles andere als besonnt.
Ein 175-jähriges Jubiläum ist ein würdiher Anlass, um den Blick auf das nächste Jahrhundertfest zu richten, Es ist willkommener Anlaß zur Standortbestimmung und für eine Rückschau. Der Bonner Alemanne Michael Hacker hat auf dieser Basis eine solide Festschrift vorgelegt, die in drei Teilen die Aspekte alemannischen Wesens von den Anfängen bis zur jüngsten Geschichte seit der Jahrtausendwende schlaglichtartig beleuchtet: Teil 1 hält facettenreich die Chronik des Jubelstiftungsfests in der Pfingstwoche vom 7. bis 10. Juni 2019 fest, das mit seinem ehrgeizigen Programm, einem Reigen von akademischen, geselligen, kulturellen und traditionellen Veranstaltungen – mit der rheinischen Besonderheit eines Weinkommerses –, den Ehrengästen und Chargierten des Roten Verbands (RV), den gehaltenen Reden und verlesenen Grußworten, die Verwurzelung Alemannias in Universität und Stadt anzeigt und ihren Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz dokumentiert – das entschiedene Eintreten für ein demokratisches Deutschland in einem geeinten Europa, manifestiert in der 2019 verabschiedeten „Bonner Erklärung“ (S. 18–19).
Sinnfällig dargestellt wird dieser Anspruch im 2. Teil, der begleitend zur Ausstellung im September / Oktober 2019 im Universitätsmuseum Bonn, die an Wechselfällen reiche Geschichte Alemannias mit aus dem Archivschatz gehobenen couleurstudentischen Exponaten, faksimilierten Dokumenten und privaten Photographien wiedererstehen läßt: Akademisches und weniger Akademisches, interkorporative Zwischen- und Überfälle, mal Spöttisches und Satirisches ebenso wie Politisches und Ernstes am Beispiel der führenden Rolle Alemannias in der Bismarckbewegung mit der Ehrung des 80-jährigen Kanzlers am 1. April 1895 in Friedrichsruh oder des schwierigen Spagats zwischen Anpassung und Opposition der Episode Kameradschaft „Bismarck“, Alemannen als Täter wie Opfer. Zum betrachtenden Verweilen einladend hochwertige Aufnahmen und Reproduktionen mit erklärenden Texten und orientierender Zeittafel in dem optisch gefälligen, durchgehend vierfarbig illustrierten Band.
Der 3. Teil ist vorbehalten den Erinnerungen von neun Alten Herren aus alemannischer Innenansicht, die die unterschiedlichen Erlebniswelten der bundesrepublikanischen Gesellschaft seit 1945 über die Studentenrevolte 1968, die jegliche Form von Tradition als Reaktion denunzierte, die deutsche Wiedervereinigung und den selbstbewußten Weg Alemannias in das 21. Jahrhundert widerspiegeln – Anekdoten, Apercus, Drolliges und Schrulliges, der Mensur- und Rudersport bei der Alemannia, der 1978 von der fortschrittlichen „Clubfraktion“ provozierte Bruch, gefolgt von der Wiederaneignung alemannischen Erbes. Die Kurzporträts alemannischer Persönlichkeiten am Beispiel bedeutender Ärzte mit den klangvollen Namen Noeggerath, v. Recklinghausen, Madelung, Perthes, Löhlein und Aschoff! Mehr Raum für dieses wichtige biographische Kapitel wäre schön gewesen – Material für eine künftige Festschrift? Die Beiträge über Hoffmann von Fallersleben, Heine und die Bonner Allgemeinheit wie über Revolte, Studentenunruhen und Massenuniversität am Schluß hätten thematisch eher in den Mittelteil gepaßt.
Alemannesein, man spürt es mit Entzücken, ist Herzenssache, Fähigkeit zu Toleranz, Offenheit, Geradlinigkeit und Treue, die Freude an der eigenen, da typischen Form. Alemannengeist, nennen wir ihn ruhig so, wird erst erlebbar, wenn man die Alemannen persönlich kennenlernt – und am besten, wenn jeder Alemanne, vom ältesten Alten Haus bis zum jüngsten Bursch, beim Festkommers den nur für ihn bestimmten und gedichteten Fuchsenvers vorträgt und es im Refrain wieder erklingt: Tirudiralala? Alemannia!
Bernhard Grün
Die Festschrift kostet EUR 25,– zzgl. EUR 5,– Versand und kann hier bestellt werden.