Für bedeutende Persönlichkeiten ist es ein Segen, wenn sie Verwandte haben, die des Schreibens mächtig sind. Noch wunderbarer ist es, wenn erstens ein schriftlicher Nachlass vorliegt und zweitens der Biograph seinerseits prominent ist – was auf Robert v. Lucius zutrifft. Unter dieser Voraussetzung ist die neue Biographie für Hellmuth Freiherr Lucius von Stoedten ein großer Gewinn, und zwar für Wissenschaftler ebenso wie für Genußleser.
Hellmuth Freiherr Lucius von Stoedten wurde am 14. Juli 1869 auf dem Gut Klein-Ballhausen in der Provinz Sachsen – heutzutage in Thüringen – geboren, am 14. November 1934 starb er in Berlin. Von Geburt bürgerlich als Hellmuth Lucius, kam mit der Nobilitierung seines Vaters im Mai 1888 der Adelstitel dazu. Ab 1914, nach dem Tod des Vaters, trug er in Sekundogenitur den Namen Freiherrn Lucius v. Stoedten. Er ist, weil er zwei Töchter, aber keine Söhne hatte, „der einzige Träger seines Familiennamens, den weder vor noch nach ihm jemand anders besaß“, wie Robert v. Lucius es in der sehr klar und übersichtlich aufgebauten Biographie formuliert.
Schon im Vorwort seiner auch erfreulich reich bebilderten Schrift hebt der Autor zwei Schwerpunkte hervor – erstens Lucius’ intime Kenntnisse und weitsichtigen Einschätzungen der Abläufe in Russland am Zarenhof und unter den Revolutionären und zweitens seine Jahre als deutscher Gesandter in Schweden während des Ersten Weltkrieges. Das versetzte ihn in die Lage, die deutsche Russland-Politik im ersten Drittel des 20. Jahrhundert nachhaltig zu prägen. Dazu v. Lucius: „Als erster Diplomat warnte er, so Kenner jener Jahre, hellhörig die deutsche Politik vor einer drohenden Revolution in Russland: Das Zarenreich gehe einer baldigen Katastrophe entgegen.“ An dieser Katastrophe sollte Lucius v. Stoedten dann auch selbst beteiligt sein. Nachdem er sich nämlich wirksam für die Neutralität Schwedens im Ersten Weltkrieg einsetzte, zählte er auch zu denjenigen, die die Reise eines gewissen Wladimir Illjitsch, genannt Lenin, ins damalige Petrograd ermöglichten. Einerseits sind die Folgen dieser Reise eine der größten Katastrophen, nicht nur für Russland, sondern der gesamten Menschheitsgeschichte, das kann hier nicht verschwiegen werden. Andererseits belegt dieser Vorgang aber exemplarisch, als wie bedeutend die Rolle dieses Diplomaten einzuschätzen ist. Dank Robert v. Lucius ist das nun klargestellt
Revolutionäre waren sozusagen das Steckenpferd des Freiherrn Lucius v. Stoedten. Er hatte sie bereits zuvor – in Paris, Berlin, Lissabon, Hamburg und Durazzo – beobachtet. Die russisch-finnische Polizei, Finnland stand damals unter russischer Herrschaft, hielt ihn für eine „Spinne im Netz der Subversion und Spionage“. Nach der von ihm mitverantworteten schwedischen Durchfahrterlaubnis für Lenin nach Petrograd, das heutzutage wieder St. Petersburg heißt, ist das auch kein Wunder.
Der Autor rühmt indessen, und das wohl „trotzdem“ nicht zu Unrecht, die Weitsichtigkeit des Diplomaten Lucius. Dies auch, weil der früher als andere die Rolle der Wirtschaft für die deutsche Außenpolitik durchdacht und in seine Vorstöße einbezogen hatte. In diesem Kontext führte er im Ersten Weltkrieg im Stockholm geheime Friedensgespräche mit Japan, koordinierte die Finnlandpolitik des Reichs, warb für einen Sonderfrieden mit Russland und arbeitete erfolgreich gegen einen Kriegseintritt Schwedens. Dies alles war möglich, weil Schweden damals als neutraler Staat ein Zentrum für Informationen, Gerüchte und Gespräche war.
Lucius von Stoedten erlebte die Jahre des Übergangs vom Kaiserreich mit seinem Glanz in die von Bürgerkrieg und nackter Not gebeutelte Weimarer Republik im aktiven Dienst mit. Er wurde nun als Gesandter der Republik in die Niederlande beordert; im Haag war er es, der den Kontakt zum früheren Kaiser im Exil und zum Kronprinzen moderieren und orchestrieren musste. Zu seinen Gesprächspartnern gehörten in jenen Jahren der Friedensnobelpreisträger Gustav Stresemann, Reichsaußenminister Walther Rathenau, der Fürst von Albanien, dazu die Unternehmer Albert Ballin, Max Warburg und Hugo Stinnes.
Doch nicht zuletzt war Lucius v. Stoedten auch ein Mann der Kultur. Robert von Lucius berichtet: „Mit Künstlern von Gerhart Hauptmann bis Tilla Durieux war er befreundet. Er sammelte Kunst und Autografen: Die Rodin-Skulptur ‚L’Éternel Printemps’ stand bis zu seinem Tod 1934 in seinem Arbeitszimmer.“ Rainer Maria Rilke widmete Lucius ein tiefsinniges – und jüngst vertontes – Gedicht. Der Journalist Maximilian Harden, natürlich auch ein Freund, nannte ihn „frei-herrliche, herrlich freie Exzellenz“. Um die Geschichtsschreibung der Kaiserzeit machte er sich verdient, indem er 1922 die „Bismarck-Erinnerungen“ seines Vaters Robert Freiherr Lucius von Ballhausen herausgab, der als Minister das besondere Vertrauen des Reichskanzlers genoss.
Die Zeitgeschichtlichen Forschungen des höchst renommierten Berliner Verlagshauses Duncker & Humblot genießen einen großen Ruf. Hier zu publizieren, ist eine Ehre. Nachdem aber Robert v. Lucius zu den wohltuend reflektierten, immer klugen und stets bestens informierten Stimmen im Lande gehört, ist es vice versa ein großer Gewinn für den Verlag, einen Autor wie ihn gewonnen zu haben. Es sei eigens und nochmals betont: Daß hier ein Großneffe über einen seiner Großonkel schreibt, bedeutet keine Verengung des Blickwinkels, keine Tendenz zur Hagiographie – es ist im Gegenteil ein großer Glücksfall, denn erstmals wurde ein schriftlicher Nachlass ausgewertet, und zwar von einem exzellenten Rechercheur, einem Kenner der Zusammenhänge, der zudem ein glanzvoller Autor ist. Und der überdies, das sei angefügt, als Heidelberger Saxo-Borusse und Bonner Preuße zum Kreis der Studentenhistoriker gezählt werden darf. Besser könnte es nicht sein. Dem Buch ist eine große Verbreitung zu wünschen.
Sebastian Sigler
Robert von Lucius, Hellmuth Freiherr Lucius von Stoedten – Diplomat zwischen Kaiserreich und Weimar, Zeitgeschichtliche Forschungen (ZGF), Band 67, Berlin 2024; 38 Abb., darunter 3 farbige; 169 S. broschiert, ISBN 978-3-428-19168-0, 29,90 Euro.