Selten wurde die Genese dessen, was wir heute unter Studentenverbindung subsummieren, in einer solchen Transparenz dargestellt wie in diesem Band. Martin Dossmann, Hochschullehrer aus Mainz und Vorsitzender des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung, klärt nicht nur die Herkunft des Corpsstudententums, sondern prinzipiell die aller Verbindungen. Denn aus der studentischen Gesellung nach altlandmannschaftlicher Art entsprossen letztlich, jede in ihrer Art, die burschenschaftliche, turnerschaftliche, katholische, evangelische, jüdische und speziell für Ingenieure ausgerichtete Richtung, um nur einige exemplarisch zu nennen. Deswegen ist dieses Buch so wichtig. Nicht nur für alle, die Band und Mütze tragen – für die aber besonders.
Der durch Dossmann vorgelegte Band ist der Auftakt einer Trilogie zur Geschichte der Guestphalia Bonn, behandelt wird die Zeit ab urbe condita bis unmittelbar vor dem Kulturbruch schlechthin – der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Und nach dem, was dieser erste Band verspricht, könnte die Bonner Guestphalia, die ihre geistigen Wurzeln glaubwürdig beim Hallenser Guestphalen-Kränzchen von 1789 und dem Westphälinger-Kartell von 1799 verortet, mit ihrer geplanten Trilogie zur Trendsetterin werden für eine neue und klarere Art, die Idee der Studentenverbindung allgemein und der Corps speziell darzustellen. Doch der Reihe nach.
Dossmann gibt zunächst Hinweise darauf, warum es gerade die Westfalen waren, die sich besonders stark landsmannschaftlich organisierten. Weil zwischen Weser und Sauerland eine Landesuniversität fehlte, wie etwa Heidelberg für das Herzogtum Baden, mußten sich westfälische Landeskinder die akademischen Weihen in der Fremde holen. Zur eigenen Sicherheit schlossen sie sich dort in Bursen zusammen. Auch die starke Wurzel der Studentenorden weiß Dossmann zu beschreiben – Verschwiegenheit gehörte als Prinzip ebenso dazu wie die lebenslange exklusive Zugehörigkeit, die heute am ehesten mit einem Einbandprinzip, das nur noch sehr wenige Corps praktizieren, zu umschreiben wäre. Damit waren aber zugleich die Umrisse für das gesetzt, was wir als Altherrenschaft kennen. Ein interessanter Beginn, ein fulminanter Einstieg!
Keinesfalls weniger bedeutend war, was die Kränzchen zur Idee des heutigen Verbindungswesens beizutragen hatten, so etwa die Art der Versammlung von Convent bis Kneipe und der starke Bezug zu den demokratisch-revolutionären Ideen der Französichen Revolution. Es handelt sich hier die Elemente, die speziell für Aktive Bedeutung haben. Die kleine Ungenauigkeit, daß beim ältesten Corps Guestphalia Halle im Anhang unvermittelt von einer „Neustiftung“ – was auch immer das sein könnte – im Laufe des 19. Jahrhunderts die Rede ist, ohne daß ein Beleg für diesen eher unwahrscheinlichen Sachverhalt gebracht wird, kann den soliden Gesamteindruck nicht schmälern. So gelingt Dossmann die Schilderung der Abkunft der Corps aus den (ihrerseits auf die Überwindung der allzu gestrengen Studentenorden ausgelegten) Kränzchen nicht ganz perfekt, aber trotzdem recht anschaulich und informativ.

Ab Seite 53 kommt nach dieser höchst interessanten Umschau dann die Bonner Guestphalia ab ihrer Stiftung im März 1820 ins Spiel, die im übrigen durch die Westfalen selbst erst für den 18. Mai 1820 offiziell vermerkt ist. Die Allgemeingeschichte kommt jedoch auch hier keinesfalls zu kurz, denn äußerst geschickt versteht es Dossmann, die fehlende Aktendichte der frühen Jahre durch Fakten aus der Bonner Universitätsgeschichte zu untermauern.
Eine ganze Reihe von Abbildungen, die zum Teil noch nirgends öffentlich zu sehen waren, lockert den Text dieses höchst faktenreichen Buches auf und ergänzt ihn zugleich wirkungsvoll. Ausführlich behandelt Dossmann die Konstitution seiner Guestphalia, doch bereits ab den ersten Jahren ist auch von studentischem Unfug größeren Ausmaßes zu lesen, der aber als Ausdruck der Lebensfreude, nicht etwa von Überheblichkeit zu sehen ist. Und ab Seite 88 folgt eine solide und ebenfalls von jedweder Hybris freie Darlegung, warum der Ursprung für die heutigen Farben des Landes Westfalen, das bekanntlich einen Teil des heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen darstellt, beim Westphälingerkartell von 1799 zu suchen ist.
Die folgenden Jahrzehnte ordnet Dossmannn sauber und chronologisch. Diese Abschnitte sind stark prosopographisch und von statistischen Daten geprägt, stets ausführlich und sorgfältig. So wird der Leser Stück für Stück hineingeführt in die Kaiserzeit, weiter zum Glanz des Wilhelminismus, dann zum Kriegselend ab 1914 mit nachfolgender französischer Besetzung des Rheinlandes, wozu natürlich auch Bonn gehört. Warum nach der Zeit der französischen Besetzung, die letztlich erst 1926 wirklich endete, praktisch umgehend ein bereits vorhandener politischer Radikalismus derart außer Kontrolle geriet, dass die Corps als unpolitische Verbindungen dagegen weder Mittel noch Wege hatten, wird überzeugend dargelegt. Hier zeigt sich der Fachhistoriker auf dem Gebiet der Studentengeschichte, denn Dossmann ist von Hause aus zunnächst Jurist. Knapp, aber völlig klar wird schließlich das Aufkommen des malignen Antisemitismus bis hin zur kompletten Ausgrenzung jüdischer Mitglieder auch in den Corps erklärt. Beschönigt wird nichts. Weil es nichts zu beschönigen gibt.

Ein ausführlicher Anhang macht den Band für Wissenschaftler ebenso gut nutzbar wie für Corpsstudenten, die nach weiterführendem Wissen streben. Von der Zeittafel bis zum ausführlichen Quellenverzeichnis ist alles da. Wesentliche Teile der Geschichte der Guestphalia sind in diesem Band abgehandelt. Man darf gespannt sein, welche Inhalte es – abgesehen von den unseligen Jahren des Nationalsozialismus – sein könnten, mit denen zwei weitere, große Bände gefüllt werden sollen. In Bälde wird man’s sehen. Schon dieser erste Band weist indessen in Qualität und Umfang weit über eine klassische Corpsgeschichte hinaus. Er ist schlichtweg eine corpsstudentische Universalgeschichte und sei deswegen allen Historikern empfohlen – und zwar durchaus nicht nur denjenigen unter ihnen, die für Studentengeschichte spezialisiert sind.
Sebastian Sigler
Dossmann, Martin, Ein Bonner Corps in der Zeit zwischen den Karlsbader Beschlüssen und dem Ende der Weimarer Republik. Geschichte der Guestphalia Bonn 1820 – 1933, Göttingen 2025, geb., 510 Seiten, zahlreiche Abb. s/w, ISBN 978-3-8471-1871-8, 70 Euro.
Der erste Band der großen Bonner Westfalen-Trilogie, der die klassische Zeit vollständig behandelt, kann beim Autor direkt bezogen werden: martin.dossmann@mailbox.org

