Wohl kaum ein anderes Corps kann ein solch komplexes, kohärentes Bild der studentischen – und ganz explizit der corpsstudentischen – Kultur vorweisen wie Saxo-Borussia Heidelberg. Rechtzeitig zum 200. Stiftungsfest ist nun eine würdige und gewichtige Festschrift erschienen, in der ein erfreulich komplett wirkendes Bild gezeichnet wird, liebevoll, aber auch mit der nötigen Selbstreflexion.
Wulf D. v. Lucius liefert eine gelungene Einstimmung, in der er dem Leser sinnvolle und notwendige Bemerkungen zur Stadt Heidelberg und zum Großherzogtum Baden an die Hand gibt. Uwe Lützen erklärt sodann die Grundlagen, also vor allem das Szenario rund um die Stiftung der Saxo-Borussia. Nachdem es im Jahre 1820 bereits Burschenschaften gab, ist sehr interessant zu lesen, warum Saxo-Borussia eben von Anfang an genau das Gegenteil sein wollte – ein Corps. Diese beiden Einstiegskapitel bedingen und ergänzen einander, und die dezente wie gekonnte Regie der Herausgeber wird sichtbar.
Nahtlos geht es weiter. Michael Stolleis fächert die Biographien und die Mentalität der Stifter des Corps und natürlich auch ihre Motivation auf. Dabei waren neun von elf Stiftern adelig – lange, bevor es einen Weißen Kreis geben konnte, denn Saxonia Göttingen wurde erst 1844 zum Corps, gab es also schon so etwas wie eine adelige, „weiße“ Richtung. Stolleis beschreibt sehr anschaulich, dass es verschiedene Kontaktflächen gab, die ein und dieselbe gesellschaftliche Schicht immer wieder hatte, zum Beispiel die Internate, die Familientage oder den Johanniterorden. Für die Zeit des Widerstands gegen den Nationalsozialismus sind diese vielfältigen sozialen Kontakte quellenmäßig systematisch erschlossen – aber bereits hier finden sie sich. Das war nicht anders zu erwarten, aber die konkreten Zusammenhänge zu erfahren bedeutet eine erfreuliche Wissensmehrung.
Es folgt eine Würdigung des Riesensteins, der Corpshauses der Saxo-Borussia also, aus der Feder von Robert v. Lucius. Es handelt sich dabei um eine informativ-sachliche Schilderung wie zugleich um eine unaufdringliche, dadurch aber umso überzeugendere Liebeserklärung – und zwar nicht nur an ein Corpshaus, sondern gleich an eine ganze Lebensform. Das ist sehr viel. Doch Saxo-Borussia hat offenbar genügend innere Kraft, um eine über alle Lebensbereiche hinweg wirksame Bindung zu erzeugen.
Würdig und sachlich, mit viel Respekt und ohne jedes nationale Getöse, wird der beiden Weltkriege gedacht, denn natürlich war der Blutzoll, den auch Saxo-Borussia entrichten mußte, entsetzlich hoch. Die Herangehensweise des Autors ist fast ein wenig apologetisch, wodurch deutlich wird, daß dieses Buch durchaus auch mit einem Seitenblick auf eine geneigte Leserschaft außerhalb des Kreises der Corpsbrüder zusammengestellt wurde.
Kein Corps hat mehr Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus in seinen Reihen als Saxo-Borussia Heidelberg – aber es gab auch Corpsbrüder, die dem braunen Ungeist folgten. Dieses per se schwierige Thema ist ganz selbstverständlich und unprätentiös in die Sachsenpreußen-Geschichte eingefügt, es wird als Teil der Geschichte angenommen. Auch die Frage nach dem möglichen erzwungenen Ausschluß jüdischer Corpsbrüder, von der Saxo-Borussia aber nur in einem Fall betroffen war, wird nicht ausgespart. Das alles ehrt Autor und Herausgeber. Längst nicht jede Festschrift, die in den letzten Jahrzehnten erschien, enthält dieses Thema – und wenn, sahen sich die jeweiligen Herausgeber anderer Schriften nur in der Lage, gefärbte Teilinformationen, einseitige Schilderungen widerständigen Verhaltens oder kriegsbezogene Berichte abzudrucken.
Nicht so Saxo-Borussia. Der Aufsatz „Zeitgeist und Gewissen“ von Hans Christoph von Rohr, der auf den Seiten 123 bis 149 der Sachsenpreußen-Festschrift abgedruckt ist, widmet sich zuerst den zehn Corpsbrüdern, die „über die reine Parteimitgliedschaft hinaus als aktive Nationalsozialisten politisch oder auf andere Weise hervorgetreten sind“. Demnach konnte man, auch dies wird nicht verschwiegen, auf dem Riesenstein einzelne Sachsenpreußen „noch in den fünfziger und sechziger Jahren als unverbesserliche Nationalsozialisten erleben“. Autor und Herausgeber adeln sich hier selbst durch klare und schonungslose Worte, ohne falsches Pathos.
Danach erst nennt von Rohr die Widerstandskämpfer und diejenigen, die aus politischen Gründen in Konflikt mit der NS-Diktatur gerieten. Insgesamt handelt es sich um 22 Sachsen-Preußen. Alle Namen – Nationalsozialisten wie Regimegegner – bekommen dabei den gleichen Stellenwert, und der Autor überlässt es ganz dem Leser, herauszufinden, dass durchaus auch mehrere Regimefreunde in Konflikte gerieten. So, wie es auch Männer gab, die widerständiges Handeln zeigten, obwohl ihre sonstige politische Haltung an sich recht regimekonform war. Ein Aufsatz, der derart offen angelegt ist, läßt differenzierte Betrachtungsweisen zu. Das ist so wertvoll, weil es illustriert, daß unter einer Diktatur unendlich viele Lebenswege verbogen und verunklart werden, weil „gut“ und „schlecht“ nicht mehr gelten, weil eben die Diktatur die Sitten verdirbt und alle Werte umwertet. Eine Gesamtschau der persönlichen Verstrickungen von Sachsenpreußen in die Ereignisse der Zeit des Nationalsozialismus: nicht weniger ist aus Sicht des heutigen Lesers hier gelungen. Saxo-Borussia gereicht dieses Kapitel zur Ehre.
Höchst aufschlußreich sind die drei folgenden Beiträge, die inhaltlich zusammengehören. Die Bewahrung des kostbaren Erbes über die Stürme des 20. Jahrhunderts hinweg – so könnte die Klammer tituliert werden. Zunächst würdigt Michael Stolleis das Ehrenmitglied der Sachsenpreußen, v. Heyl, und den über vier Jahrzehnte hinweg amtierenden, wahrhaft legendären Corpsdiener Angstmann in ein und demselben Beitrag, wobei die Ausführungen zu Letzterem den eigentlichen Wert für den Leser bieten. Harald Frhr. v. Seefried liefert danach ein recht informatives Lebensbild zum eben genannten v. Heyl, wobei sich die Überschneidungen mit dem vorherigen Beitrag durchaus in Grenzen halten. Zur Bewahrung des Erbes gehört schließlich auch die Wiedererrichtung des Aktivenbetriebs nach dem Verbot durch die Nationalsozialisten und dem nochmaligem Verbot durch die Alliierten. Höchst interessant ist, wie Saxo-Borussia zunächst eine Reformverbindung namens „Heidelberger Kreis“ mehrheitlich favorisierte, bevor das Corps unter dem Eindruck der Wiedergründung der Corpsverbände dann doch wieder zu sich fand und den Aktivenbetrieb wiedererrichtete. Nikolaus Würtz hat diese höchst spannende Epoche in einem sehr gelungenen Beitrag lebendig und spannend geschildert.
Die sechs folgenden Beiträge sind beste corpsinterne Geschichtsschreibung, sie behandeln die damals wie heute aktuellen Fragen nach der Verfasstheit des Corps. Die Fechtfrage, in der wohl die Reformbestrebungen des „Heidelberger Kreises“ nachklingen, wird ebensowenig ausgelassen wie eine Würdigung der Kartellbeziehungen zu Borussia Bonn und Saxonia Göttingen. Die Schilderungen zur 68er-Zeit zeigt dabei vor allem eines: die Ratlosigkeit, mit der die Corps – so wie alle Verbindungen und manch andere Einrichtung der abendländischen Kultur – durch diese Phase der Zerstörung und der Umwertung vieler Werte gegangen sind. Hervorzuheben ist der an konkreten Beispielen sehr reiche Abschnitt zur Feierkultur. Die hier wohl alles sagende Zwischenüberschrift lautet: „Gefeiert wurde eigentlich immer“ – Chapeau!
Sehr schön ist zu lesen, dass Saxo-Borussia sich um ihre nachwachsende Generation bemüht und diese wahrnimmt. Die Erlebnisse rund um den Mauerfall sind ein Stück Zeitgeschichte, und hier gelingt es sogar, eine Quelle zu schaffen für kommende Generationen, denn gute Geschichtsschreibung sollte immer beides zugleich beinhalten: Hebung vergangener Schätze und Hinterlassung zukünftiger Trouvaillen. Auch werden Startups benannt und die entsprechenden Unternehmer aus den Reihen der jüngeren Corpsbrüder vorgestellt. So zukunftsgewandt und lebendig dies auch sein mag, drängt sich doch ein wenig der Eindruck einer bemühten Sinnsuche auf. Ein Stück Nabelschau darf dann auch noch sein – die Darstellung des Riesensteinarchivs an Beispielstücken, zahlreiche auch abgebildet, ist legitim und schön gelungen. Wobei eigentlich das Buch in seiner Gesamtheit der beste Ausdruck dafür ist, was für ein ausgezeichnetes und gut geführtes „Gedächtnis“ Saxo-Borussia trotz massiver Kriegsverluste heutzutage hat.
Mit erkennbarer Liebe haben die Sachsenpreußen, allen voran der versierte Lektor und Verleger Konrad Honig, die Festschrift für ihr Corps herstellen lassen. Ein schöner, dezenter Festeinband, eine Fadenheftung, vielleicht hätten noch Lesefäden in den Corpsfarben spendiert werden können. Die Bildwiedergabe ist ausgezeichnet, denn durchgängig wurde Bilderdruckpapier verwendet, was den Band entsprechend gewichtig macht. So wäre durchaus auch die Möglichkeit gegeben gewesen, der wohl einmaligen, großartigen „Ahnengalerie“ in der Kneipe etwas mehr optisches Gewicht zu verleihen – diese Chance wurde nicht genutzt. In der graphischen Gestaltung hätte etwas mehr Luft, also etwas mehr Weißraum gutgetan. All dies schmälert jedoch den fabelhaften Gesamteindruck keineswes, zumal schon der Umschlag diesen Band zu einem wahren Schmuckstück macht.
Wer dieses Buch besitzt, hat natürlich ein wahres Kompendium an Informationen zur Geschichte der Saxo-Borussia in Händen – aber eigentlich ist es ein facettenreiches Bild des Corpsstudententums an sich, das hier aufgeblättert wird. Der Titel „Saxo-Borussia, Dir gehör’ ich“ könnte zwar vermuten lassen, daß hier eine selbstbeweihräuchernde Nabelschau betrieben wird, aber dem ist nicht so. Ein starker Appell nach innen, an die junge Generation, das Corps zukunftsgewandt weiterzuführen – der ist indes durchaus erkennbar. Aber im Vordergrund steht eine reife, abgewogene und in vielen Beiträgen auf sehr hohem Niveau realisierte Darstellung eines bedeutenden Corps, das aufgrund seiner Bedeutung wie ein Spiegel für den gesamten Kösener Senioren-Convents-Verband wirken kann.
Die Corps haben die altlandsmannschaftliche Tradition in der Zeit des Deutschen Idealismus für die Moderne umformuliert, lange vor der napoleonischen Ära und dem Kulturkampf, die jeweils eigene Verbindungsformen hervorbrachten, die sich in allen wesentlichen Punkten an die Corps anlehnen. Daher ist dieses Buch von Bedeutung für alle Korporierten, für alle Korporationsformen. Es ist eine dankbare Lektüre, denn hier wird mit Sorgfalt und Liebe eine Kultur beschrieben, die es schon lange verdient hätte, auch offiziell wahrgenommen zu werden: als immaterielles UNESCO-Welterbe. Bei Saxo-Borussia kommt noch hinzu, daß das vielgeliebte Haus, der Riesenstein, ein veritables Kulturdenkmal ist. Glückliche Saxo-Borussia – ein ewiges vivat, crescat, floreat!
Sebastian Sigler
Lucius, Wulf D. v. / Lützen, Uwe Johannes / Stolleis, Michael (Hrsg.), Saxo-Borussia, Dir gehör’ ich! 200 Jahre Corps Saxo-Borussia zu Heidelberg 1820 – 2020, Heidelberg 2020, Festeinband mit Titel- und Rückenprägung, Fadenheftung, SU, ISBN 978-3-00-065031-4, für für 32 Euro plus Porto bestellbar bei der Firma Beck, Industriestr. 53, 69245 Bammental, Tel. 06223 970153, saxoborussia@beck-gmbh.eu
Ein Kommentar zu “Gelungene Festschrift: Saxo-Borussias schöne, erlauchte Welt”