Ein wahrlich gewichtiges Werk aus der Feder eines der profiliertesten Schweizer Studentenhistoriker hat der WJK-Verlag in sein Programm genommen. Paul Ehinger legt hier ein opulentes und informatives Schlüsselwerk vor.
Das Buch befaßt sich mit der Geschichte des schweizerischen Corporationsstudententums in den dramatischen Jahren 1930 bis 1940. Dieser Zeitraum war auch für das wahrlich florierende schweizerische Verbindungsleben nicht einfach – doch das opulente Gemälde, das sich vor den Augen speziell deutscher Leser entfaltet, zeigt auch deutlich, was hätte sein können, wenn das Deutsche Reich vor dem Nationalsozialismus hätte bewahrt werden können. Zu würdigen ist ein damit Opus Magnum, das eine enorme Wissenslücke auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft schließt. Allein das ist schon Verdienst genug, und überdies hat sich Paul Ehinger mit diesem Werk einmal mehr seinen Platz auch in der deutschen Studentengeschichte erschrieben. Doch der Reihe nach. Grußwort, Glossar und umfassende Einleitung haben den Leser bereits eingestimmt, wenn die Schilderung der Situation der Korporationen in der Schweiz um 1930 beginnt. Systematisch werden Universitäten und Korporationen geschildert, und allzu unvergnügt kann’s nicht gewesen sein, wie ein Bild mit den Aktiven der Jurassia Basel und der damals weltberühmten Josephine Baker belegt: die für damalige Verhältnisse höchst verruchte Künstlerin trägt darauf Couleur!
Ein äußerst anschauliches Kapitel über die Manifestationen, also die öffentlichen Feiern, bis zum Jahre 1935 schließt sich an. Welch ein Kontrast zu dem Drama um Verbot und erzwungene Anpassung, das sich nördlich des Rheins abspielte! Und so geht es, inhaltlich sauber aufgelistet und mit Sorgfalt bearbeitet, der Reihe nach weiter. Partiell entwickelten sich Sympathien im Geist der Konservativen Revolution: Antiliberalismus, Antisozialismus, Korporatismus. Hingegen waren Frontismus, Nationalsozialismus, Faschismus und Antisemitismus zwar oft diskutierte Themen, erlangten aber weder ideologisch noch personell eine beherrschende Rolle. Unter „Frontismus“ ist dabei eine Parallelbewegung zum Faschismus in Italien und zum Nationalsozialismus in Deutschland zu verstehen, die eine Umgestaltung des Staates auf völkischer Grundlage anstrebte – die blieb nicht nur unter Korporierten, sondern auch in der Gesamtbevölkerung ein Randphänomen.
Am Beispiel des 6. Kapitels, das die Konservative Revolution behandelt, wird deutlich, wie sehr der Geschichtswissenschaft angeraten werden kann, Ehingers Werk zu Rate zu ziehen. Natürlich geht es um Einzelpersonen, so zum Beispiel um den Basler Zofinger Dietrich Barth, aber was Ehinger in diesem Kapitel ausführt, ist ein Stück europäische Geistesgeschichte, zu dem Ehinger die Verständnisschablone liefert: wer mit wem durch den Comment der Studenten verbunden war, wurde auch vor rund 80 Jahren im Alltag nicht immer sichtbar. Diese gemeinsame geistige Quelle ist es, die den Unterschied macht.
Wie die Schweizer Corporationen auf Hitler reagierten
Die Ablehnung der Totalrevision der Schweizer Bundesverfassung im Jahre 1935 leitete eine Wende ein. Doch darin steckte, wie Ehinger zeigt, im Kern ein gehöriges Stück Reaktion auf die Liquidation des deutschen Korporationsstudententums. Der Nationalsozialismus war nun das primäre Feindbild. Je näher der Krieg heranrückte, desto bewußter wurden sich die Couleurstudenten ihrer schweizerischen Werte. Nun ging es für die Mehrheit um eine geistige Landesverteidigung.
Einzelne schweizerische Korporierte, die nationalsozialistisch gesonnen waren, blieben dagegen in der Minderheit. In seinem ausführlichen Kapitel zu Judenfrage und Antisemitismus bringt Ehinger die entsprechenden Beispiele, vor allem die kleine Handelshochschule in St. Gallen fiel demnach damit auf. Höchst aufschlussreich auch das Unterkapitel zum Corps Tigurinia Zürich, dessen fast einstimmige Verweigerung der Gleichschaltung durch den NSDStB – mittels des seinerseits quasi gleichgeschalteten KSCV – der Autor an gleich zwei Stellen herausarbeitet. Höchst interessant, daß Tigurinia im Jahre 1934 durch den NS-Staat, vertreten durch den NSDStB, als „Vorposten des Deutschtums“ instrumentalisiert werden sollte – und natürlich ablehnte.
In Lausanne, bei der deutschsprachigen Germania, begegnet der Leser dann zwei wichtigen und bedeutenden Widerstandskämpfern gegen Hitler: Erstens Ulrich v. Hassell Sueviae Tübingen, der ein Semester lang in Lausanne studierte und in dieser Zeit bei Germania auch Fechtstunden belegte. Sodann, nicht weniger bemerkenswert, Kurt v. Plettenberg, einem AH der Germania. Beide sollten ihren Widerstand gegen Hitler mit dem Leben bezahlen – Hassell wurde hingerichtet, Plettenberg wählte in der Gestapo-Haft in höchster Verzweiflung den Freitod, um die Mitverschwörer nicht zu verraten.
Sorgfältig ist Ehinger bei seinen Recherchen vorgegangen. Eine ganze Reihe Schweizer Bürger, die als Mitglieder deutscher Verbindungen ihre Bänder nach 1933 zurückgaben, erfasst er ebenso wie das düstere Schicksal der Schweizer Verbindungen im Deutschen Reich und in Österreich. Doch es gab andererseits auch Schweizer, die in ihren Verbindungen im Land der Eidgenossen als Sympathisanten Hitlers auftraten – als Aktivisten des Frontismus oder gar als Nazi-Sympathisanten; beispielhaft sei der Abschnitt über die kurzlebige Verbindung „Patria Zürich“ genannt. Beschönigt wird insgesamt nichts, der Autor hat seinen Stoff in allen Kapiteln klar durchdrungen und erweist sich als großer Kenner. Durch seine Recherchen erkennt der Leser, wie groß der Unterschied zwischen den Schicksalen für Menschen und Verbindungen auf den beiden Seiten des Oberrheins war. Herrschten nördlich des Flusses Diktatur und Verbot, war südlich davon, in der Eidgenossenschaft, ganz selbstverständlich das Weiterbestehen möglich. Wie groß das Unglück war, das Hitler über Deutschland, Europa und die Welt brachte – aus diesem Blickwinkel wird es nochmals auf neue Art sichtbar.
„Faschistische Lösung für unser Land undenkbar“
In ihrer großen Mehrheit standen die Schweizer zu den Werten von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Die relevanten Vorgänge und die handelnden Personen hat Ehinger mit viel Fleiß der Reihe nach für die Leser aufgearbeitet – so zum Beispiel der StVer Philipp Etter, der für die Schweiz formulierte: „Fest und klar steht bei mir die Überzeugung, dass die faschistische Lösung für unser Land undenkbar ist, ohne die geschichtlichen Grundlagen und damit den Weiterbestand der schweizerischen Eidgenossenschaft in Frage zu stellen.“ Überaus klarsichtig stellte Etter im Jahre 1934 fest: „Unklar und unsicher ist auch noch der geistige Inhalt des deutschen Nationalsozialismus. Mir scheint in der Tat, dem Namen entsprechend, [dass] viel Sozialismus mitschwimmt.“
Im dreizehnten Kapitel geht es um den Blick auf die Ereignisse in der Schweiz, die von den Ereignissen in Deutschland beeinflusst waren – um die Perzeption der für die deutschen Korporationen insgesamt so fatalen Entwicklung von Verdrängung, Verbot und Zwangsauflösung durch den nationalsozialistischen Staat, der sich selbst als „sozialistisch“ ansah. Und der nicht zuletzt daraus seine Feindschaft gegenüber den Korporationen zog. Eine erste – ebenfalls schon sehr gelungene – Version dieses Kapitels erschien bereits als Aufsatz im Tagungsband der 75. deutschen Studentenhistorikertagung 2015 in Bonn.
Vom Aufbau her ist das gesamte Werk als ein durchgängiges Manuskript gestaltet. Nur knapp sind die Kapitel unterteilt, kaum können die Zwischenüberschriften ihre eigentliche Aufgabe des Rhythmisierens erfüllen. Eine klarere Teilung der verschiedenen Themengebiete hätte die Übersichtlichkeit und damit vielleicht auch den Zugang zum umfangreichen Stoff speziell für Nicht-Korporierte deutlich erleichtert; gerade in den lexikalischen Artikeln in der zweiten Hälfte des Bandes droht zuweilen die Übersicht verlorenzugehen. Wer indes einer Verbindung angehört – und es spielt keine Rolle, welchem Dachverband diese angehört –, wird dies Buch Seite für Seite verschlingen und immer neue, spannende Details entdecken.
Der Band ist in der ganz typischen hellblauen und bewährten Farbe als Festeinband mit Fadenheftung erschienen – als korporierter Leser weiß man, was man am WJK-Verlag hat. Bibliophil gesinnte Leser könnten sich eine an konservativeren Stilvorlagen ausgerichtete Haptik vorstellen – auch sind Lesefäden gerade bei solch umfangreichen Werken sehr hilfreich. Die zugegebenermaßen große Materialfülle dürfte ein Grund dafür sein, dass ein Bildteil auf dafür geeignetem Papier fehlt. Zwar sind die Bilder an den exakt passenden Stellen montiert, aber ihre Qualität bleibt teils deutlich hinter den Erwartungen zurück. Hier wäre die Druckvorstufe gefragt gewesen – dieses Manko ist ein wenig schade, denn so wird eine Menge der Lesefreude, die der Text vermittelt, leichtfertig hergeschenkt; schriftliche Quellen sind teils nur mit Mühe zu entziffern. Etwas unhandlich ist zudem die Zählung der Fußnoten, die komplett durchläuft. Eine Nummerierung nach Kapiteln hätte Vorteile in der Übersichtlichkeit gebracht – schließlich gibt es derer 4295. Der Größe und dem Umfang des Werkes angemessen sind dagegen Quellen-, Literatur- und Namensverzeichnisse.
Der Autor schließlich, Dr. phil. und Mitglied der Zofingia Zürich, gehörte zu den Initiatoren und Mitgründern der Schweizerischen Vereinigung für Studentengeschichte, der er von 1988 bis 1994 vorstand und deren Zeitschrift „Studentica Helvetica“ er 25 Jahre lang herausgab. „Das schweizerische Corporationswesen von 1930 bis 1940“ ist ein Schlüsselwerk, das ihm wahrlich gelungen ist und das er dank des WJK-Verlages ohne Druckkostenzuschüsse publizieren konnte – heutzutage eine Seltenheit. Auch Autoren wissen, was sie an diesem Verlag haben.
Wichtig für Interessierte und vor allem für die Historikerzunft ist jedoch der neue, bisher nicht behandelte Blickwinkel, der die Kontakte und geistigen Strömungen in der Schweiz transparenter macht, weil dessen Ursprung beleuchtet wird: die studentische Kultur, die sich in Verbindungen aller Art organisiert und manifestiert. Dem Werk ist eine große, internationale Leserschaft nicht nur unter Korporierten zu wünschen!
Sebastian Sigler
Ehinger, Paul, Das schweizerische Corporationswesen von 1930 bis 1940; Hilden 2018, gebunden, Fadenheftung, 878 Seiten, mit 160 SW-Abb. im Text, Vorwort von Prof. Alexander Stücheli, ISBN 978-3-947388-07-3; 69,90 Euro zzgl. Porto.