Es ist schon bedauernswert, wenn eine Buchreihe, die seit den späten 1980ern mit 20 anspruchsvollen Titeln zur Bildungsgeschichte eine große Leserschaft erreicht hat, vom Kurs abkommt. Dabei hätte der Umstand, daß diese Reihe nunmehr beim renommierten Wissenschaftsverlag Böhlau erscheint, zu schöner Hoffnung berechtigt. Eine Rezension von Bernhard Grün.
Die aktuelle Studie von Sabrina Lausen, vorgelegt als Promotionsschrift an der Universität Paderborn, zum Korporationswesen in Polen und Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfüllt die Erwartungen leider nicht. Was ist der Grund? Die Verfasserin gibt sich zwar alle Mühe, die parallelen Wurzeln des deutschen und polnischen Studententums zu erfassen, jedoch ohne Sinn für Wesen und Sein. Vielmehr scheint es Ziel, mittels bestimmter Fragen gewisse vorbestimmte Antworten zu generieren. Das Korporationswesen in seiner persönlichkeits- und gemeinschaftsbildenden Funktion bleibt so fremd.
Dabei ist die Fragestellung, deren „theoretisches Fundament“ – wie die Autorin, die Zugang zu einschlägigen Verbandsarchiven hatte, konzediert – einleitend von den „wertvollen Ratschlägen“ und dem „Expertenwissen“ ihrer Betreuer sichtlich profitiert, hochspannend: Welches war die Rolle von Verbindungen für die Elitenbildung in beiden Ländern? Wie wurden nachwachsende Akademikergenerationen sozialisiert? Kam es insbesondere zur Bildung eines genuin polnischen Verbindungstyps? Worin unterscheiden sich politische, religiöse und soziale Haltungen im transnationalen und transkulturellen Vergleich? Was machen Verbindungen aus Menschen?
Das Korporationswesen, seit 1990 in der Republik Polen neu zum Leben erwacht, blickt auf eine fast 200-jährige Historie zurück – verstehbar mit Blick auf das preußisch- bzw. baltisch-deutsche Erbe. Vor allem mit Rückgewinnung der Eigenstaatlichkeit Polens seit 1918 gewann das stark katholisch gefärbte Korporationsstudententum an Bedeutung und geriet, von heimattreuen Parteien und Eliten unterstützt, in den 1920er Jahren zunehmend in nationalpolnisches Fahrwasser. Das Selbstverständnis wird am Beispiel der wichtigsten polnischen Verbände, dem 1921 gegründeten ZPKA, dem seit 1924 durch Abspaltung entstandenen Verband katholischer Korporationen ZPAKCh sowie dem 1931 unter dem Einfluß des Regierungschefs Józef Pilsudski geschaffenen FPKA, sowie auf deutscher Seite von Burschenschaften, Corps und CV bis zur Ausschaltung im Nationalsozialismus skizziert. Der ist zwar ausdrücklich nicht Thema der Arbeit, mündet aber (vorhersehbar) im Endergebnis darin: „Als im September 1939 mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann …“
Zwar nimmt die Verfasserin auch korporative Fachliteratur der vergangenen Jahrzehnte unter die Lupe, methodisch bedient sie sich jedoch kräftig der Kategorisierungen (Hierarchiedenken, Xenophobie, Rassismus, Antifeminismus) eines gesellschaftskritisch-marxistischen Denkansatzes und attestiert den Verbindungen schon mal pauschal einen „üblen Ruf“. Immer wieder fallen (klärbare!) Unsicherheiten in verbindungsstudentischer Terminologie auf (Unterschied Renonce/Fuchs), positive Aspekte des Korporationswesens wie Verantwortung (Charge), Beziehung (Leibverhältnis) und Toleranz (Conventsdemokratie) fehlen. Sie mißinterpretiert so das Phänomen (Verhältnis Landsmannschaften und Orden), überbewertet Einzelaspekte (Duell und Mensur), Rituale (Trinkzwang, zuletzt 1928 beim „stets etwas schwerfälligen“ KSCV abgeschafft!), Handlungsweisen (Wehrsport). Die Begründung des Toleranzprinzips, nachgerade abenteuerlich: dieses sei gewählt aus Furcht vor religiösen Spannungen, wofür zumal die massive Ablehnung des CV durch die Corps spreche. Der belastende deutsch-polnische Gegensatz durch Gebietsverluste nach 1918 und die Danzigpolitik, nicht thematisiert. Daß Papst Gregor XVI. in seiner Enzyklika vom 9. Juni 1932 (!) von den Polen Gehorsam gegen den Zaren (!) einforderte, geschenkt. Der so konstruierte „Habitus“ gerät notwendig schief, bis zu ungewollter Komik etwa in der Sportfrage: Habe der Sport den Burschenschaften als Ersatz für die fehlende Wehrpflicht gedient, sei es im CV die Angst vor drohender „Schwindsucht“ (Tuberkulose) gewesen. Lange habe der sich überhaupt nicht damit befaßt: „Das hieß jedoch nicht, daß die Katholiken schlichtweg zu faul oder zu unsportlich gewesen wären.“ Frage: Gibt es eigentlich mehr evangelische oder katholische Olympiasieger? Mehr jüdische Nobelpreisträger allemal!
Feststellungen bleiben unhinterfragt: „Die Curonen mochten die Polen“, Vorurteile werden reproduziert: „… Festkommers, auf dem vermutlich auch viel Alkohol geflossen war“, Gegensätze aufgebauscht: „ritualisiertes Trinken“ sei den Polen zwar völlig fremd gewesen, Formen wie der Landesvater hingegen hätten einfach „Spaß“ gemacht, Thesen in den Raum gestellt: in Riga sei nie gesoffen worden, um kurz darauf genau das Gegenteil zu behaupten: „… betranken sich in Saufgelagen, prügelten sich oder spielten Karten“ usw. Allen Ernstes dient der Tagungsort der Kösener im „Mutigen Ritter“ als Beleg für ein übersteigertes Männerbild, beim CV ist es der „Gralsritter“ als „Kernsoldat“ des Papstes. Verortet sie ausgerechnet in der Frage des Frauenstudiums eine frühe Offenheit der Burschenschaft (welche Ehre!), konstatiert sie gleichzeitig eine „bürgerlich-männliche bigotte Doppelmoral“. Vollmundig preist sie den Einsatz der Frauen als „Mütter der Nation“ für den Befreiungskampf Polens, sei es als „Nachrichtenhelferinnen und Sanitäterinnen“ – unwillkürlich drängt sich die Frage nach dem wesenhaften Unterschied von Wehrmachtshelferinnen auf: „Die selbstlose Hingabe der polnischen Frauen für ihr Volk hatte für die Gesellschaft in Polen vor allem gute Folgen.“ Rein rhetorisch natürlich am Rande nur die Frage nach dem Zusammenhang von Duell und Mensur und der „Brutalisierung“ deutscher Polizeibataillone und Soldaten. Waren Polen etwa weniger national – am identischen Duellstandpunkt kann es nicht gelegen haben! Der CV – wegen seiner Ablehnung der Mensur – habe dagegen in den Augen der Corps als „unmännlich“ gegolten (soweit wollen wir nicht gehen!). Die Verfasserin bleibt die Antwort schuldig, warum so unterschiedliche Korporationsformen (man könnte die Frage auf baltische, jüdische und schweizerische oder abstinente und Damenverbindungen ausdehnen) im europäischen Kontext zu ganz ähnlichen Auffassungen gelangt sind. Unwidersprochen sei, daß die Korporationen jedweder Couleur mit Stolz tatsächlich stets „Hüter ihrer Nationen“ waren und sind.
Dieser Text erschien zuerst in der Studentica Helvetica, dem Organ unseres Partners SVSt.
Sabrina Lausen: Hüter ihrer Nationen. Studentische Verbindungen in Deutschland und Polen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen, Folge 21. Wien / Köln / Weimar 2020, 508 S., gebunden, 54,99 Euro, ISBN 978-3-412-51777-9.