Nun ist eingetreten, was Freunde und Weggefährten schon seit Wochen befürchteten. Der ehemalige Präsident der SVSt, der bedeutende Studentenhistoriker und deswegen Träger des rot-weiss-roten Ehrenbandes des Schweizer Zofingerverbandes, Dr. phil. Paul Ehinger v/o Wecker, ist am 3. November 2022 an den Folgen einer schweren malignen Erkrankung verstorben. Die Studentenhistoriker trauern, und sein Zofinger-Verbandsbruder Christof Frey hat ihm einen sehr persönlichen Nachruf verfaßt.
Am Morgen des 3. November 1922 schloss mein lieber Freund und Farbenbruder Dr. phil. hist. Paul Heinrich Ehinger für immer die Augen. Obwohl ich seit mehreren Wochen von seiner schweren, letalen Krankheit wusste, hat mich die Todesnachricht tief getroffen, zumal ich drei Tage zuvor noch mit ihm am Telefon sprechen und herzliche Grüsse mehrerer Teilnehmer der wenige Tage zuvor abgeschlossenen 82. deutschen Studentenhistorikertagung in Würzburg ausrichten konnte, worüber er sich sichtlich erfreut zeigte. Erlauben Sie mir einen kurzen Rückblick auf sein Leben, natürlich aus der Perspektive der Korporationen und des interessierten Freundes der Studentengeschichte.
Paul Ehinger wurde am 7. August 1939 in Malmö geboren, erlebte seine Jugend- und Schulzeit jedoch in der heimatlichen Ostschweiz im Kanton St. Gallen. Nach der Schule absolvierte er das kantonale Lehrerseminar in Rorschach im Kanton St. Gallen, in der heutigen Pädagogi-schen Hochschule. und war in dieser Zeit Mitglied der Mittelschulverbindung Fides Rorschach. Nach drei Jahren im Schuldienst strebte er nach Höherem und nahm ab 1963 an der Universität Zürich das Studium der Geschichte und Soziologie auf, das er 1970 mit der Promotion zum Dr. phil. abschloss. Der Titel seiner Dissertation zeugt bereits von seiner klaren liberalen Haltung, an der er sein Leben lang festhielt: „Die Anfänge des liberalen Parteiwesens im Kanton St. Gallen – ein Beitrag zur Geschichte und Soziologie des organisierten Liberalismus in seinem Frühstadium“.
Während des Studiums in Zürich wurde er in der Sektion Zürich des Schweizerischen Zofingervereins, kurz in der Zofingia Zürich, aktiv und erhielt das Cerevis, also den internen Biernamen Wecker. Die gesamtschweizerische vaterländische und grundsätzlich liberale Ausrichtung der Zofingia war und blieb ihm wichtig. Er war und blieb aber auch ein ausgeprägter Couleurstudent, trink- und commentfest, der zeitlebens sehr kontaktfreudig sich sowohl mit den nachfolgenden Generationen seiner Zofingia wie auch mit Angehörigen anderer Verbindungen und Verbände im In- und Ausland glänzend zu verständigen wusste.
Diese Kontakte und der Austausch mit Couleurstudenten anderer Verbände, das historische Interesse, das verstehen Wollen und Anerkennen des Trennenden und das freudige Erkennen und Zelebrieren des Gemeinsamen waren für Paul Ehinger eine so starke Triebfeder, dass er 1984 zusammen mit Peter Platzer, Manessiae Zürich et al., seine Pläne in die Tat umsetzte und zum Mitgründer der Schweizerischen Vereinigung für Studentengeschichte, SVSt, wurde. Dazu wurden noch je ein AH der Schweizerischen Studentenverbindung Helvetia und des Schweizerischen Studentenvereins (StV), des Analogon zum CV, in den Gründerkern eingebunden.
Paul Ehinger diente seiner Zofingia und der SVSt lange, ausdauernd und wirkungsvoll. Es würde den Rahmen dieses Nachrufes sprengen, alle Chargen, Verdienste und Publikationen aufzählen zu wollen. Stellvertretend seien genannt: Mitglied der Historischen Kommission und Zentralarchivar der Zofingia bis vor sieben Jahren, Mitglied des Zentralausschusses der Schweizer Altzofinger während mancher Jahre, Präsident der SVSt von 1986 bis 1994, Redaktor der „Studentica Helvetica“, kurz SH, von 1995 bis 2014. Immens war Paul Ehingers publizistische Tätigkeit mit unzähligen Artikeln in den Heften der SH und weiteren Schriftenreihen zur Studentengeschichte, mit diversen Monographien, von denen nur zwei jüngere, wiederum stellvertretend, genannt seien:
„Das Schweizerische Corporationswesen 1930 – 1940“, erschienen 2018 im WJK Verlag, worin unter anderem die Frage beleuchtet wird, wie weit die Schweizer Corporationen in diesem Jahrzehnt für faschistisches Gedankengut anfällig waren, respektive warum sie ganz überwiegend dafür immun blieben. Der von ihm geplante und bereits vorbereitete Anschlussband, nämlich „Das Schweizerische Corporationswesen 1941 – 1950“ bleibt jetzt Stückwerk, außer, es fände sich ein Historiker, der willens und fähig ist, aus dem hinterlassenen Material diesen zweiten Band fertig zu schreiben. Zweitens der Prachtband „Zofingia Zürich 1819 – 2019, die Geschichte der ältesten Studentenverbindung der Zürcher Hochschulen“, mit Paul Ehinger als Hauptautor und Herausgeber sowie mit Beiträgen von Hans Wälty und Alex Kuhn, Zürich 2020. In beiden Monographien ist beeindruckend, mit welch akribischer Sorgfalt Paul Ehinger die Quellen recherchierte und wie klar er den zugehörigen Apparat gestaltete, eben nach bestem Können des gelernten Historikers. Und trotzdem bleiben die Texte leicht lesbar und verständlich.
Für die unschätzbaren Verdienste um seine Zofingia und auch allgemein um das Couleurstudententum in der Schweiz wurde ihm von der Zofingia im Jahre 2010 das „Ruban d`Honneur“, das Ehrenband in rot-weiss-rot verliehen. Das ist eine selten gewährte Ehrung, die z.B. seither keinem mehr zuteil wurde. Und mit der gleich gelagerten Motivation, nämlich ihm für seine außerordentlichen Verdienste um die SVSt zu danken, widmete diese ihm im Jahre 2015 eine Festschrift „Nachträglich zum 75. Geburtstagen und für 20 Jahre Redaktion der Studentica Helvetica“, erschienen als Heft 31 der Documenta et Commentarii der SVSt, Bern 2015. In der Kürze dieses Nachrufes kann ich nur wenige Schlaglichter auf das breitgefächerte studentenhistorische Wirken unseres lieben Verstorbenen werfen in der Hoffnung, das sein Œuvre bald ausführlicher gewürdigt werden wird. Die Zofingia Zürich plant für ihn eine größere Veranstaltung, die seiner Würdigung und auch dem Abschied gewidmet sein wird, deren Datum aber heute noch offen ist.
Im Anschluss an das Studentische darf ich auch kurz auf Paul Ehingers frühere berufliche Tätigkeit hinweisen. Er war jahrzehntelang journalistisch tätig, zuletzt seit 1988 als Chefredaktor einer Regionalzeitung, dem „Zofinger Tagblatt“. In der Journalistenrolle war er ebenfalls reichlich publizistisch tätig, sowohl mit Artikeln wie mit Büchern, in denen er den liberalen politischen Stand-punkt mit Nachdruck vertrat. Und nicht vergessen sei seine Familie: Paul Ehinger hinterlässt seine Ehefrau Elsbeth Ehinger-Hagmann, einen Sohn, der ebenfalls AH der Zofingia ist, und eine Tochter sowie mehrere Enkel.
Ein lieber Freund und Farbenbruder, ein begeisterter Couleurstudent und ausserordentlicher Kenner der Studentengeschichte sowie in diesem Felde begnadeter Autor ist von uns gegangen. Bei aller Trauer schätze ich mich glücklich, mit ihm zusammen manche studentenhistorische Tagung des AKSt besucht und zudem den letzten Landesvater anno 2020 in Basel gestochen zu haben.