Czernowitz! Wie ein Zauberwort aus vergangener Zeit wirkt dieser Name, gerade angesichts des Krieges, in den die Ukraine gestürzt wurde. Gregor Gatscher-Riedl schildert die goldene Zeit der fernsten, östlichsten Stadt der einstigen Donaumonarchie, in der prozentual so viele Studenten korporiert waren wie sonst fast nirgendwo. Natürlich interessiert die Studentenhistoriker neben den aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg vor allem das Kapitel „Die Kaiser-Franz-Josephs-Universität, ihre Professoren und Studenten“.
Der Auftakt ist verheißungsvoll. „Die Kaiser-Franz-Josephs-Universität, ihre Professoren und Studenten“ –so ist das Kapitel übertitelt, das der Verfasser, Gregor Gatscher-Riedl, prominent am Beginn des Bandes „k.u.k. Sehnsuchtsort Czernowitz – Klein-Wien am Ostrand der Monarchie“ plaziert hat, gleich nach einer recht informativen Skizze zur Geschichte der Stadt und einigen Portraits bedeutender Czernowitzer Persönlichkeiten – darunter Rose Ausländer, Paul Celan, Karl-Emil Franzos, Gregor von Rezzori, Joseph Alois Schumpeter.
Das fplgende Kapitel über das studentisch-akademische Czernowitz ist dann der wirkliche inhaltliche Beginn – und welch ein Reichtum an Verbindungen tut sich vor den Augen des Lesers auf! Mit großer Sachkunde unterteilt und sortiert Gatscher-Riedl die einzelnen Dachverbände, die ganz unterschiedlichen weltanschaulichen und religiösen Richtungen. Die Sphäre der mensurbeflissenen Verbindungen weiß er von den Verbindungen, die das Fechten ablehnten, sehr kundig zu unterscheiden. Alles wird sehr transparent, sehr faktenbezogen und bis in Detailfragen hinein absolut korrekt aufgefächert und geschildert. Chapeau!
In Czernowitz gab es polnische, rumäni-sche, deutsche, ruthenische, moldawi-sche und natürlich zahlreiche jüdische Verbindungen, denn drei Viertel der Czernowitzer Studenten waren jüdisch; unter den jüdischen Verbindungen war die zionistisch eingestellte Hasmonäa „von allen die feinste“, so jedenfalls zitiert Gatscher-Riedl eine Zeitzeugin. Doch nicht nur das: Die drei Vertreter der Bukowina auf dem erstem Zioni-stencongress im Basler Stadtcasino gehörten allesamt der Hasmonäa an.
Nur wenige der Czernowitzer Verbindungen haben überlebt, so wie die heute in Erlangen ansässige CV-Verbindung Frankonia, die mit einem großen Semesterbild in dem „Coffeetable“-Eleganz ausstrahlenden Band vertreten ist. Das Corps Alemannia, es bestand von 1877 bis 1937, eines von insgesamt drei Corps, gehörte dagegen nicht dazu. Hier ist es mit einem Bild – übrigens aus der Sammlung Raimund Lang – vertreten. Gerne würde man noch mehr lesen von der bunten Farbenwelt im so fernen und angesichts der Semesterbilder der Verbindungen doch so nahen Czernowitz. Gerne würde man durch Czernowitz schlendern und sich die wenigen verbliebenen Spuren der alten Burschenherrlichkeit am Ostrand der Donaumonarchie genauestens anschauen. Und noch viel lieber würde man es selbst erleben, wenn es denn nur noch ginge.
Fast ein wenig verbindungsmäßig muten die „Nationalhäuser“ an, Kristallisationspunkte der Kultur in Czernowitz, aber eben auch – wie das Deutsche Haus – Heimat vieler Verbindungen, die in dem jeweils zugehö-rigen Haus ihre Konstante hatten. Diese Häuser hatten damit ein Scharnierfunktion in die Stadtgesellschaft hinein. Prachtvoll waren sie ausgestattet, und teils sind sie heute noch in dieser Pracht erhalten. Gatscher-Riedl zeigt das am Beispiel des polnischen, des jüdischen und auch des deutschen Nationalhauses in Czernowitz.
Beeindruckend die Zeugnisse der jüdischen Gemeinde, die einst in der Stadt das Sagen hatte – anders kann die Auskunft des Autors, 90 Prozent aller Unternehmer in der Stadt seien jüdisch gewesen, nicht verstanden werden. Aus heutiger sicht fast nicht mehr vorstellbar ist dagegen, dass es keinen Widerspruch zwischen einem Bekenntnis zum Deutschtum und dem jüdischen Glauben gab. Am ehesten ist dies nachzuvollziehen an den Literaten, unter den Rose Ausländer und Paul Celan hervorstechen. Doch genauso viel lernt der Leser über den Chassidismus; und dem bei Czernowitz ansässigen „Ruschiner Rebbe“ Israel Friedmann verdankte die Stadt den Beinamen „Jerusalem am Pruth“. Freilich trug auch die prachtvolle Synagoge dazu bei, deren heute zerstörte Kuppel stark an diejenige des Felsendomes erinnerte. Auf einem bei Gatscher-Riedl wiedergegebenen, unscheinbaren Ankündigungszettel für eine Operette begegnet dem Leser dann auch ein bekannter Name: Sulamith. In Paul Celans „Todesfuge“ soll sie uns wiederbegegnen, mitten in der Shoah: „dein aschenes Haar Sulamith“.
Über die Religion kommt der Autor dann zur Schilderung des Stadtbildes. Hervorzuheben ist das höchst informative und ausführliche Kapitel zum erzbischöflichen Palastes mit seinen Kirchen, genannt „Österreichs orthodoxes Escorial“, denn in der Tat – im Vergleich zur Größe der Stadt wirkte die über der Stadt thronende, lange Ziegelfassade wie ihr berühmtes spanisches Vorbild. Nur, dass es sich um einen Gründerzeit-Bau handelte. Um einen rechteckigen Platz herum ist dieses Ensemble aus mehreren mächtigen Backsteingebäuden angelegt. Es wurde von 1864 bis 1882 nach den Plänen des tschechischen Architekten Joseph Hlávka errichtet. Die Erzbischöfliche Residenz in Czernowitz gehört seit 2011 zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Viel wäre auch zu sagen zu den übrigen Kirchen, die über die ganze Stadt verstreut sind und die hier in sonst wohl nur in Jerusalem vorhandener Vielfalt vertreten sind, und vor der kommunistischen Barbarei waren ja sogar noch viele mehr! Für Czernowitz wie für ganz Europa gilt: Ach, welch immenser kultureller Reichtümer haben uns doch der internationale Sozialismus – der Kommunismus – und der nationalistische Sozialismus – der Nationalsozialismus also – beraubt!
Ausführlich behandelt Gatscher-Riedl auch das profane Stadtbild, das Eisenbahnwesen und mancherlei städtische Einrichtungen, zuvörderst das Theater. Das sind zwar Einrichtungen, die viele Städte hatten, aber in Czernowitz waren sie besonders schön und stimmig gebaut und gruppiert, und anhand der reichen Bebilderung des Bandes kann Gatscher-Reidel das bestens belegen. Doch so würdig diese Funktionsbauten gewesen sein mögen: Zu einem Sehnsuchtsort machten diese Stadt das religiöse und das akademische Leben und – das vor allem! – ihre Studentenverbindungen.
Die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt, die in Czernowitz vor dem Unheil der beiden großen Diktaturen eine Heimat hatte, war in ganz Europa schlichtweg unerreicht. Gregor Gatscher-Riedl gebührt großes Lob dafür, dies alles in einem gut lesbaren, höchst informativen und dabei überaus reputierlichen Bild-Text-Band ausgebreitet zu haben. Diesem Werk sind recht viele Leser zu wünschen!
Gregor Gatscher-Riedl, k.u.k.-Sehnsuchtsort Czernowitz – „Klein-Wien“ am Ostrand der Monarchie, Berndorf (Österreich) 2017, geb., 21 x 21 cm, 204 S., durchg. bebildert, ISBN 978-3-99024-690-0, 26,90 Euro.
Kann der Rezension nur rechtgeben. Bin neugierig geworden, vielleicht treffe ich Kooperierte im Deutschen Haus an!