Der Schipkapaß — eine wundersame, lang schon untergegangene Welt

Ein türkischer Fez, eine orientalische Kopfbedeckung also, war wohl der Anfang. Moritz Milde, eigentlich ein ärmlich wirtschaftender böhmischer Bauer im Prager Umland, hatte regelmäßig Besuch von Studenten, zumeist Korporierten, denn die Universität war nahe. Da speziell diese Gäste, gerne in Band und Mütze, zuverlässig nach Bier fragten, erweiterte Milde seine grob gemauerte und windschiefe Kate um einen Bierausschank, der sich durch ein dementsprechend rustikales Ambiente, aber auch durch große Bäume ringsumher und eine schöne Aussicht auszeichnete.

Aus einem ärmlichen Bauernhof war unversehens eine Gastwirtschaft geworden, die aber vom Ambiente her schlichtweg abenteuerlich war, zumal für Prager Studenten aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Hoch ging es her, und die Korporierten brachten ihre Usancen mit. Alle feierten Kneipen, stochen Landesvater, errichteten vor allem auch ihre Bierstaaten. Eines Tages nahm Moritz Milde, der Wirt, einem mutmaßlich schwer besoffenen, jedenfalls aber zahlungsunfähigen Studenten, so die wahrscheinlich wahrheitsgetreue Überlieferung, die eingangs genannte, übrigens wohl wirklich aus dem Orient stammende Kopfbedeckung ab. Der Zechpreller erschien indessen nicht wieder, um seinen Fez auszulösen.

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Moritz Milde, genannt Osman Pascha, mit seinem Fez als dritter von links. Ganz links Anna Milde; an der Hauswand studentische Zeichnungen und Gedichte, die den Bierkonsum illustrieren.

1878 oder bald darauf muss das geschehen sein. Moritz Milde trug das gute Stück nun auf seinem Kopf. Weil sich die Osmanen im Krieg gegen das Zarenreich am Schipkapass in Bulgarien just siegreich bewährt hatten und vor allem auch, weil die Habsburgermonarchie in Waffenbrüderschaft zur Hohen Pforte stand, wurde in Mildes Landschänke diese Schlacht mit Bier begossen. Der Wirt selbst wurde von den anwesenden Studenten logischerweise Osman Pascha genannt. Die Benennung fand allgemein Anklang, und immer mehr Studenten pilgerten zum Schipkapass.

Schon bald war der Wirt nur noch unter seinem orientalischen Biernamen bekannt. Aus Anna Milde, der Wirtsfrau, wurde natürlicherweise Suleika. Und nachdem die Taten des Osmanischen Reiches am Schipkapaß zu einem ruhmreichen Sieg gegen den Zaren wesentlich beigetragen hatten, war der couleurstudentische Prager Bierstaat mit seinem deutschböhmischen Wirt, der seinen Fez mit Stolz trug, fortan dauerhaft nach dem Ort dieser Schlacht benannt. So war der weit abgelegene, ärmliche Ausschank den Studenten zum märchenhaft existenten, türkisch-orientalischen Elysium geworden.

Links mittig die Todesanzeige für Moritz Milde, in der sein Biername ebenso wie der seiner Frau Anna ausdrücklich erwähnt wird.

Wohl um die drei Jahrzehnte ging das so, und die orientalisch-äthylische Legende lebte auch nach 1908, als das Ableben von Osman Pascha zu beklagen war, unverwüstlich weiter. Mit dem Untergang Deutschböhmens versank auch dieses ruhmreiche Bierstaatswesen im Alkoholdunst der Geschichte. Kurz vor dem Ende der kommunistischen Diktatur wurde die verfallenen Gebäude 1988, noch stehend, wiederentdeckt. Bereits im Jahr zuvor hatte der Prager Armine Christian Oppermann darüber im Jahrbuch für corpsstudentische Geschichtsforschung, Einst und Jetzt, Band 32, 1987, auf S. 165 bis 181 berichtet. Sein Beitrag ist ein melancholischer Abgesang auf die „Alt-Prager Studentenromantik“, wie er sie selbst nennt. Der Assistent Osman Paschas, Abraham, der natürlich in Wirklichkeit auch ganz anders hieß, aber von auffällig kleinem Wuchs war, kommt ebenso zu Ehren wie die Lyrik, die auf den bierseligen Ort vor den Toren Prags gedichtet wurde und zu bekannten Melodien zu singen ist. Nochmal meldete sich Oppermann im Band 36, der erschien 1991, auf Seite 287 ff. mit einem Kurzbeitrag zur Entdeckung der Örtlichkeit und aktuellen Wegbeschreibungen zu Wort. Er sagte damals bereits voraus, dass die Gebäude kaum zu retten sein dürften. Eine Prognose, die eintreffen sollte. Oppermanns Aufsätze sind auch heute noch aktuell.

Aber es soll hier um den Wiederentdecker des Schipakapasses von 1988 gehen, Franz Luger von der Nibelungia Wien im ÖCV. Dessen Bericht folgt unten, und 1988 sah er die Gebäude noch aufrecht stehend. Rettung wäre möglich gewesen, denn der Kommunismus war schon in den Mülleimer der Weltgeschichte geworfen. Just in den 1990er Jahren brachen die Gemäuer aber zusammen. Das ist sozusagen tragisch, aber dadurch wurde der so überaus denk- wie merkwürdige Bierstaat vor den Toren Prags, obschon längst untergegangen, nochmals märchenhafter. Wie dem auch sei — heute nimmt uns Franz Luger mit dorthin, und er hat versprochen, daß es, allen düsteren Geschichten zum Trotz, eine heitere Ausfahrt wird.

Ein Bild aus besseren Zeiten: die Örtlichkeiten des Milde’schen Gasthauses und ein Portraitbild Osman Paschas, bemerkenswerterweise mit Fez. Offensichtlich eine Karte speziell für studentische Kundschaft! Beachtenswert auch die damals offenkundig positiv konnotierten Attribute des osmanischen Türkentums, wohl wegen der Waffenbrüderschaft der Mittelmächte.

„Am Schipkapass geht’s lustig zu!“

In meiner Fuchsenzeit bei der ehrwürdigen KöStV Nibelungia, als ich mit Akribie lernte, wie man Bier stilvoll verschüttet und Trinksprüche mit dem nötigen Pathos vorträgt, hat mich ein Lied besonders begeistert: „Mit der Fidel auf dem Rucken…“ Zum fulminanten Finale rief die Corona stets: „Am Schipkapass geht’s lustig zu!“ – ein Ruf, der viele Fragen aufwarf. Aber Antworten gab es nicht.

Was sollte dieses rätselhafte Wortspiel bedeuten? Oder war es gar ein Name? Wie ein Ohrwurm hatte dieses „Schipkapass“ sich in meinen Kopf gebohrt. Also begann ich zu recherchieren, was damals, ohne Internet, ungefähr so einfach war, als würde man versuchen, einen Elefanten durch eine Telefonzelle zu schieben. Doch schließlich wurde ich fündig: Ein Text von Karl Hans Strobl offenbarte, dass der Name zu einem bulgarischen Gebirgspass gehörte. Zu lesen war interessanterweise auch, daß es sich bei dem im Lied besungenen Pass keinesfalls um die abgelegene Bergstraße, sondern vielmehr um eine Prager Studenten-Gaststätte handelte. Und die, so las ich mit steigendem Interesse, war zu ihrer Zeit so beliebt wie Freibier beim Anstich.

Mit einer kopierten Ansichtskarte ausgerüstet, beschloss ich 1988, diesen sagenumwobenen Ort zu finden, dem Schipkapass einen Besuch abzustatten. Dass die damalige CSSR noch von einer Regierung geführt wurde, die etwa so flexibel war wie ein Betonblock, störte mich nicht. Schließlich war ich auf einer Mission: Die Wahrheit über den Schipkapass musste ans Licht! Es war wie eine Gralssuche – nun ja, beinahe. Aber wie Indiana Jones fühlte ich mich allemal!

Ich begann meine Suche im Prager Stadtteil Vokovice, ausgerüstet mit Kamera, Karte und dem Optimismus eines Erstsemestrigen vor der ersten Klausur. Nach stundenlangen Spaziergängen durch blühende Gärten – Romantik pur, wenn man Heuschnupfen liebt – stand ich endlich vor den Mauerresten dieser legendären Spelunke, in den letzten Dezennien offensichtlich als Geräteschuppen verwendet.

Ein alter Mann, der in der Nähe Gartenarbeit verrichtete, beobachtete mich neugierig. Offenbar war es damals in Prag nicht alltäglich, dass jemand alte Mauern wie einen Indiana-Jones-Schatz umkreiste. Auf meine Frage antwortete er mit einem Lächeln und den Worten: „Ano, Schipkapass, ovsem!“ – was auf Deutsch ungefähr „Ja, Schipkapass, na klar!“ bedeutet.

1988: Schipkapaß wiederentdeckt! Franz Luger v/o Zorro (re.) und Heinrich Kolussi † v/o Tacitus vor dem Originalschauplatz.

Der Gute war so hilfsbereit, dass er mir eine Leiter brachte, damit ich die verbliebenen Mauern aus allen Perspektiven fotografieren konnte. Fast hätte ich erwartet, dass er mir noch eine Lupe reicht, falls ich irgendwo Napoleons Initialen entdecke. Denn, wie er mir mitteilte, sei Napoleon höchstpersönlich dort durchmarschiert. Auch wenn das Prager Vorland auf direktem Wege von Paris nach Moskau liegt, jedenfalls annähernd, war dies natürlich der Punkt, an dem ich mich fragte, ob der übereifrige örtliche Helfer mir vielleicht in der Hoffnung auf reiche Trinkgelder einen Bären aufband – oder derer zwei. Natürlich spähte ich trotzdem nach Zeichen, die auf unsere Altvorderen in den Korporationen hindeuteten, etwa eingeritzten Zirkeln – aber vergebens.

Zurück über die Grenze, in der freien Welt, in Wien. Der Entschluss stand fest. Die Wiederentdeckung des Schipkapasses war trotz der desolaten Verlassenheit des Ortes zusammen mit weiteren Überzeugten gebührend zu feiern. Eine „Wiederentdeckungskneipe“ wurde organisiert, und wir planten eine Rückkehr nach Prag. Natürlich nicht ohne gewisse Vorsichtsmaßnahmen – schließlich wollte ich nicht, dass uns die tschechoslowakische Geheimpolizei für besonders dilettantische Spione hält. Mit dabei waren erlauchte Cartellbrüder wie Landtagsdirektor Dr. Krause, der unvergessene und leider zu früh verstorbene Professor Mag. Kolussi, Min.Rat Dr. Beinhofer und Dr. Koreska.

Am 3. September 1988 hatte die Expedition den Eisernen Vorhang passiert, war bis Prag vorgestoßen, hatte sich ordentlich präpariert, und dann war es soweit: Wir hielten die erste couleurstudentische Kneipe am Schipkapass seit mindestens 70 Jahren ab. Campingtische und -stühle ersetzten die traditionelle Kneiptafel, das echte Budweiser-Bier kam aus Kühltaschen, und die Stimmung war so ausgelassen, als hätten wir die Bundeslade gefunden. Es war ein historischer Moment, den wir gebührend mit Kneipgesängen und Bier feierten – Auferstehung, couleurstudentischer Art. Und so kann ich nun mit Fug und Recht behaupten: Am Schipkapass ging es nicht nur früher lustig zu – wir haben dafür gesorgt, dass dieser Geist ab 1988 wiederbelebt wurde, denn in gebührenden Abständen zwar, aber doch regelmäßig erhält der Schipkapass seitdem korporierten Besuch. Möge dieser legendäre Bierstaat, zugleich ein Zeugnis des alten Deutschböhmens in seinem guten Sinne, in den Annalen der couleurstudentischen Geschichte weiterleben – in unseren Herzen wird er es ohnehin immer tun.

Dr. Franz Luger NbW im ÖCV

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