10. Europäische Studentenhistorikertagung: „Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren!“

Wohl unter keinem besseren Motto als dem Titel dieses unvergleichlichen Heidelberg-Schlagers, gedichtet im Jahr 1927 von Fritz Löhner-Beda, Mitglied der J.A.V. Kadimah Wien, ermordet 1942 im KZ Dachau, hätte die seit 1924 nunmehr 84. Studentenhistorikertagung stattfinden können. Sie wurde turnusgemäß gemeinsam durchgeführt mit dem Österreichischen Verein für Studentengeschichte (ÖVfStG) und der Schweizerischen Vereinigung für Studentengeschichte (SVSt).

Unter der so versierten wie engagierten Leitung des seit 2009 in dieser Funktion amtierenden Dr. Sebastian Sigler, Corps Masovia Königsberg zu Potsdam und Guestphalia Halle, tagten die europäischen Studentenhistoriker in der Universitätsstadt Heidelberg. Damit wurde in besonderer Weise der Gründung des Arbeitskreises vor 100 Jahren durch Rechtsanwalt Fritz Ullmer, Burschenschaft Frankonia Heidelberg, und Regierungsrat Georg Schmidgall, Verbindung Normannia Tübingen, die zum ersten Mal am 18. Oktober 1924 nach Stuttgart eingeladen hatten. Damals wie heute sollen die Tagungen mit Vorträgen zu zahlreichen Themen dem Austausch und der Vernetzung der Studentenhistoriker dienen.

Dankbarkeit und ein universitär hochbedeutender Rahmen: Festakt des Arbeitskreises der Studentenhistoriker in der Heiliggeistlkirche Heidelberg am Freitag, 11. Oktober 2024.

Von Anfang an setzte sich der Kreis, der bis heute ohne jeden vereinsrechtlichen Rahmen verbandsübergreifend wirksam ist und in den Jahren seines Bestehens – mit mehrjähriger Pause im Nationalsozialismus – einen reichen Schatz an Erkenntnissen und Ergebnissen aus dem Gebiet des Hochschulwesens weit über den Horizont Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zusammengetragen hat, aus Fachhistorikern und interessierten Laien zusammen. Erwähnt seien hier beispielhaft das nach 1990 wiedererstandene baltische Studententum und das seit 1933 für immer verlorene jüdische Korporationswesen.

Aktuell gefördert wird der AKSt vom Convent Deutscher Akademikerverbände (CDA), der Gemeinschaft für Deutsche Studentengeschichte (GDS) und der CV-Akademie. Sehr gut, aber eben informell ist die Zusammenarbeit mit den verschiedenen studentengeschichtlichen Vereinigungen der Corps im KSCV und WSC, des Coburger Convents (CC) der Landsmannschaften und Turnerschaften, der Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung und dem Steirischen Studentenhistorikerverein (StStV). Die Vorträge der jährlich an wechselndem Ort stattfindenden Tagungen, die jedem Interessierten offenstehen, werden in der eigenen Buchreihe „Beiträge zur deutschen Studentengeschichte“ veröffentlicht.

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Diesmal bereits am Donnerstagabend versammelten sich die Teilnehmer zum Begrüßungsabend im dichtbesetzten Saal des unterhalb des Heidelberger Schlosses im Barockstil erbauten Mittermaier-Palais, seit 1822 bis zu seinem Tod bewohnt von dem Heidelberger Rechtsgelehrten und liberalen Paulskirchen-Politiker Karl Joseph Anton Mittermaier, das sich seit 1958 im Besitz der Turnerschaft Ghibellinia befindet. Als Hausherr referierte Oliver Mohr über Leben und Wirken Mittermaiers, nahtlos korrespondierend schloß sich der Vortrag von Helma Brunck über den Präsidenten des Paulskirchenparlaments und Burschenschafter Heinrich von Gagern an.

Spitzwegs „Armer Poet“ lässt grüßen: seltene Ansicht aus dem Heidelberger Studentenkarzer, dem die erst kürzlich abgschlossene, fachgerechte Konservierung offenkundig gutgetan hat.

Am darauffolgenden Vormittag stand die Besichtigung des historischen Studentenkarzers mit seinen humorvollen Wandzeichnungen, die die meist nur wenige Tage inhaftierten Adepten früherer Studentengenerationen dort hinterließen, auf dem Programm. Dort zu sein, sich umzuschauen und zu verstehen – ein Schlüsselmoment nicht nur für Studentenhistoriker. Kaum weniger beeindruckend die im vornehmen Stil der Neorenaissance zum 500-jährigen Jubiläum der Ruperto-Carola 1886 umgebaute Alte Aula, in der der Franke Dr. Gerhart Berger sehr kundige Erläuterungen gab, schließlich auch das didaktisch exzellent aufbereitete Universitätsmuseum.

Großartige musikalische Gestaltung: Dr. Harald Pfeiffer war an der großen Orgel, am Steinway-Flügel und auf der Trompete zu hören; hier wird er beim Gaudemus igitur von Iwan Durrer auf Flügel begleitet.

Am Nachmittag folgte ein großer Festakt in der Heiliggeist-Kirche, die im Jahre 1386 bereits Gründungsort der heute noch und unter dem Namen Ruperto-Carola bestehenden Heidelberger Universität war. Feierlich gedachten über 100 Studentenhistoriker ihrer Toten – stellvertretend wurden genannt Klaus Gerstein als langjähriger Leiter des AKSt, Harald Seewann als Forscher zum jüdischen Korporationswesen und Paul Ehinger als einstiger Vorsitzender der Schweizerischen Vereinigung der Studentenhistoriker. Kongenial die musikalische Begleitung durch Dr. Harald Pfeiffer, VDSt Heidelberg, abwechselnd an der großen Orgel, am Flügel und auf der Trompete, überleitend zu den Grußworten der Vertreter der verschiedenen Vereinigungen. Lieder der alten Studenten, allen voran das Gaudeamus igitur, umrahmten den Festvortrag des Rechtsprofessors und Alten Herrn der Burschenschaft Frankonia, Klaus-Peter Schroeder, der über das „Heidelberger Studentenleben am Vorabend des Ersten Weltkriegs“ sprach und allgemeinen Beifall erhielt. Angetan im purpurrot besetzten Talar wechselte der Redner nach seiner Begrüßung zur allgemeinen Erheiterung der buntbemützten Schar effektvoll das Barett seiner Fakultät gegen den dunkelroten Franken-Stürmer.

Schon auf der Vorabendveranstaltung über 100 Anwesende: Freitagabend, 10. Oktober 2024 auf dem Heidelberger Zähringerhaus. Die Studentenhistoriker waren gleichermaßen vom interessanten Vortragsprogramm und der Vorfreude aufs Wiedersehen angelockt worden.

Am Freitagabend, willkommen geheißen und bewirtet von den Aktiven auf dem Haus der Landsmannschaft Zaringia, berichtete der Leiter des Heidelberger Universitätsarchivs, Dr. Ingo Runde, assistiert von seinem Kollegen Gabriel Meyer, über das Digitalisierungsprojekt von Bildern, Fotos und Objekten im historischen Studentenlokal „Zum Roten Ochsen“, wo die Tagungsteilnehmer zuvor das Mittagessen genossen hatten. Wohl in keiner anderen Universitätsstadt sind Kneiplokale studentischer Verbindungen so wie in Heidelberg bis heute beliebte Treffpunkte der Korporationsstudenten. Beispielsweise diente der „Rote Ochse“ früher als Kneipe der Gesellschaften der Schweizer und der Hamburger Studenten, weswegen deren Landes- und Stadtfahnen bis heute neben den gelb-roten Farben Badens an der Fassade wehen. Ganz ähnlich das im Jahr 1802 am Gaisberg erbaute Gasthaus „Zum Riesenstein“, 1874 als ältestes Verbindungshaus vom Corps Saxo-Borussia erworben und bis dato baulich nur unwesentlich verändert. Vorträge von Mag. Renate Reimann über die Geschichte der Grazer slawischen Korporation Triglav und Dr. Stefan Greiwe zur Fiktionalisierung Heidelbergs in ausgewählten Studentenroman schlossen sich an. Eine erkleckliche Gruppe Studentenhistoriker harrte noch bis zu später Stunde bei frischem Gerstensaft aus.

Die Große Kneipe auf dem Heidelberger Schwabenhaus fasste die insgesamt rund 120 Teilnehmer der Tagung nicht; allerdings verfügt Suevia auch eine große Halle, die angrenzt, womit für alle Historiker ein ungetrübter Hörgenuß gewährleistet war.

Am Samstag standen auf dem 1904/05, ebenfalls anstelle eines ehemaligen Ausflugslokals, als eines der prächtigsten seiner Art errichteten Haus des Corps Suevia insgesamt sechs Vorträge auf dem ehrgeizigen Programm: Der Reigen begann morgens um 10 Uhr – fast, aber nicht jeder Teilnehmer war zu solch früher Stunde wieder präsent – mit Prof. Dr. Martin Dossmann, dem Vorsitzenden des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung, über studentische Streitkultur im 19. Jahrhundert am Beispiel Bonns. Es folgte der überaus pointierte Vortrag von Christian Brändli über das Pauk- und Fechtwesen in der Schweiz, das sich durch verschiedene Besonder- und Eigenheiten gegenüber den Nachbarländern Deutschland und Österreich auszeichnet. Der Alte Herr Sueviae Dr. Dr. Klaus Jünemann-Neven stellte die Ergebnisse seiner Forschungen über die „Heidelberg Conference“ 1949 auf dem Schwabenhaus als Entstehungsort des Zentralrats der Juden in Deutschland der Öffentlichkeit vor.

Herzliches Dankeschön an Professor Reinhold Reimann für seinen mit seltenen Tondokumenten versehenen Vortrag über Karl Mullé, ein Grazer Original, zu Lebzeiten berühmt als genial-melancholischer Interpret von Studentenliedern.

Nach der Mittagspause – das Corps Suevia hatte zu Tisch geladen – sprach der ÖCVer Dr. Gerhard Hartmann über die katholischen Verbandsgründungen in Österreich infolge der Machtergreifung 1933 in Deutschland. Vorträge des Zofingers Dr. Christoph Frey über den politischen Karikaturisten im Vormärz Martin Disteli und des Grazer Gothen Prof. Reinhold Reimann über den Sänger und Kneipenwirt Karl Mullé schlossen sich an. Trotzdem blieb genügend Raum und Zeit für manch schöne und willkommene Begegnung.

Hanfried persönlich? Ja, gewiss! Pünktlich zum 100-Jahres-Jubiläum ließ es sich die Heidelberger Frankonia nicht nehmen, eine originale, gereimte Bierzeitung, ein Gedicht also, zum Vortrag zu bringen. Für niemanden war die Überraschung größer als für den Tagungsleiter, der doch gedacht hatte, er wisse alles über die Tagung….

Gesellschaftlicher Höhepunkt der Tagung war am Samstagabend die Festveranstaltung „100 Jahre AKSt“ im Großen Saal des Hauses der Burschenschaft Frankonia. Ein Heidelberger Chor erfreute zur Begrüßung mit mehreren Lieder des Dichters Viktor von Scheffel, zur Studentenzeit selbst Mitglied Frankonias. Das studentische Liedgut Heidelbergs hatte sich passend dazu Dr. Harald Pfeiffer als Thema seines Vortrags gewählt. Dr. Gerhart Berger, Alter Herr Frankonias, referierte über seinen Bundesbruder und AKSt-Mitgründer Fritz Ullmer. Ein sich anschließender heiterer Liederabend gipfelte in der Darbietung einer gereimten „Bierzeitung“, bei der ein Heidelberger Franke, als Schauspieler bekannt, als Hanfried, also als Gründer der Salana in Jena auftrat. Unter trefflicher Klavierbegleitung Iwan Durrers und mit Überreichung eines Merianstichs der Stadt Heidelberg an den stets vorausblickenden Tagungsleiter Sebastian Sigler klang der Abend feuchtfröhlich aus. So mancher stieg als „Fürst von Thoren“ noch zu später Stund’ auf Tisch und Stuhl. Es soll sogar ein Raum des Hauses ob des lustigen Treibens dort zum „Schweizer Zimmer“ ernannt worden sein.

Ein Geschenk für den Tagungsleiter gab’s zum Abschied vom mit 13 Monaten jüngsten Teilnehmer der Tagung; dieser natürlich ebenfalls in Couleur!

Viel zu früh endete die Tagung am Sonntagvormittag mit einer Matinee auf dem Haus des Corps Thuringia. Dieses Haus war bis 1933 Sitz der farbentragenden und durchaus mensurbeflissenen jüdischen Verbindung Bavaria im Kartell-Convent. Dies ist das einzige im Kontext erhaltene jüdische Verbidungshaus weltweit. Der Zürcher Zofinger Hans Wälty stellte das von ihm vollendete Buchprojekt aus dem Nachlass Paul Ehingers über das Schweizerische Korporationswesen 1941 bis 1950 als Werkstattbericht vor. Nach inniglichen Dankesworten Siglers verabschiedeten sich die Teilnehmer schweren Herzens einer nach dem anderen mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen im nächsten Jahr – dann vom 17. bis 19. Oktober 2025 im trauten Marburg an der Lahn.

Bernhard Grün

Ein feines Gespür für den besonderen photographischen Moment hat Ruth Cadosch. Mit drei Korporierten – Ehemann, Tochter, Schwiegersohn – war sie nach Heidelberg gekommen, und zwei Enkelkinder waren auch mit von der Partie. Sie begleitete die Tagung mit ihrer Kamera, und aus ihrem Blickwinkel ergibt sich zusammen mit dem Text von Bernhard Grün ein ganz eigener Eindruck der Tagung. Ein origineller Beitrag zum Gelingen des Jubiläums! Das Bild aus dem düsteren Karzer steuerte Reinhold Reisch bei.

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